„Leoben ist ein Vorort von Wien“

„Leoben ist ein Vorort von Wien“
Die alte Industrieregion in der Obersteiermark schafft die digitale Wende. Aber an Attraktivität zum Leben fehlt es noch

Am 24. April wird in Kapfenberg ein Ereignis stattfinden, das es seit 40 Jahren in Europa nicht mehr gab: der Spatenstich für ein neues Stahlwerk.

Mit 350 Millionen Euro will die Voestalpine das „modernste Edelstahlwerk der Welt“ bauen, die Produktionsabläufen werden vollständig digitalisiert sein. 2021 geht das Werk in Betrieb. Blue Collar-Worker gibt es da so gut wie keine mehr, das Gros der Arbeitnehmer sind IT-Experten und Metallurgen. Die Menschen produzieren nicht mehr manuell, sie steuern Produktionsprozesse am Computer. Sie schaufeln keine Kohle in Hochöfen, sondern tüfteln an Optimierungen ihrer metallurgischen Werkstoffe, die rund um den Globus an die Luftfahrt, Autobauer oder die Öl- und Gasindustrie gehen.

Industrie in Europa

Die Obersteiermark, bis vor kurzem eine sterbende Industrieregion mit Arbeitslosen in bröckelnden Plattenbauten, schafft den Sprung in die digitalisierte Produktion. Erst im vergangenen Herbst hat die Voestalpine in Leoben ein ultramodernes Drahtwalzwerk eröffnet, der Feuerfest-Konzern RHI Magnesita betreibt in der Region sein globales Forschungszentrum und zwei Betriebsstätten.

Dass die Digitalisierung eine Chance für Europa als Industriestandort ist, kann man in der Obersteiermark live beobachten. Und nein, der Grund ist nicht, dass Europa jetzt, wo Roboter statt Menschen arbeiten, wieder billig genug ist. „Arbeitskosten spielen in der Industrieproduktion schon seit langem eine untergeordnete Rolle“, sagt Wirtschaftsforscher Matthias Firgo vom WIFO. „Der Vorteil Europas liegt in der Ausbildungsqualität. Hochspezialisierte Industrie benötigt hochspezialisierte Arbeitnehmer.“ Ein Befund, den Voestalpine-Boss Wolfgang Eder aus der Praxis bestätigt. „Das profunde Wissen und die Einsatzbereitschaft der Mitarbeiter waren ausschlaggebend für die Investition in der Steiermark."

Studenten-Mangel

Im Umfeld von TU-Graz, Montan-Uni Leoben und Fachhochschulen siedelten sich Forschungsstätten der privaten Industrie an. Das Potenzial ist nicht ausgeschöpft, die Montan-Uni könnte viel mehr Studenten aufnehmen, als sie hat. „Zur Zeit haben wir 4000 Studierende, das Ziel wären 5000“, sagt Leobens Bürgermeister Kurt Wallner.

Wirtschaftlich hat das alte Industriegebiet die Zeitenwende zwar geschafft, aber noch sehr viel ist für einen attraktiven Lebensraum zu tun. „Früher genügten Arbeiterwohnungen, ein Sportplatz und ein Gasthaus“, erinnert sich Wallner.

Ein Hauch von Bobo

Gut bezahlte, hoch spezialisierte Arbeitnehmer haben heute andere Ansprüche. Sie wollen die Infrastruktur einer Großstadt und die Umweltqualität des Landes. Die Politik bemüht sich, die Erfordernissen zu erfüllen. Das Murufer wird gerade als Freizeitraum entwickelt, mit Joggingstrecken und Radrouten. Alte Wohnsilos werden modernisiert und saniert, Schrebergartenanlagen im Stadtgebiet vergrößert. „Kleingärten und Gartenhäuschen sind im Moment der große Hit“, erzählt Wallner. Ein Hauch von Bobo-Lifestyle in Leoben.

Zudem versucht Wallner gerade, ein zwanzig Hektar großes Gelände am Stadtrand für hochwertige Wohnanlagen zu erschließen. Der Bürgermeister benötigt Bewohner in der Stadt, zu viele sind derzeit Einpendler aus Nachbargemeinden oder aus Graz. Wallner: „Wenn die Stadt wächst, wird sie bedeutender und bekommt mehr Geld aus dem Finanzausgleich.“

Big Bang

Die österreichischen Kleinstrukturen mit Tausenden Gemeinden stehen den Erfordernissen einer modernen Standortpolitik oft im Weg. Angesagt ist Regionalentwicklung statt Kirchturmpolitik. „Der Big Bang für die Obersteiermark wäre ja, wenn aus Leoben, Bruck und Kapfenberg eine Einheit würde“, sagt Wallner.

Doch das ist Zukunftsmusik. Inzwischen behilft man sich mit Zusammenarbeit in Regionalverbänden. Dort werden Wünsche der Wirtschaft umgesetzt. Zum Beispiel benötigt die Industrie, dass 25 Prozent der Kindergartenplätze in der Obersteiermark englischsprachig sind, für Forscherfamilien aus dem Ausland, und weil in Konzernen die Arbeitssprache Englisch ist. Oder: Die Schulen verabsäumen, bei Kindern Technikinteresse zu wecken. Jetzt wird ein Technikkoffer für die Volksschullehrer der Region entwickelt.

Besser als Peking

Nahverkehr, Freizeitinfrastruktur, Shoppingcenter – vieles steht und fällt mit der Größe eines (urbanen) Raums. „Große Handelsketten sagen mir, unter 40.000 Einwohnern eröffnen sie keine Filiale“, erzählt Wallner. Auch das Image spielt natürlich eine Rolle. Wallner: „Ein Spitzenmanager von Magnesita hat mir gesagt, wenn er einen Forscher aus Asien nach Leoben bringen will, sagt er: Leoben ist ein Vorort von Wien.“ Was Leoben asiatischen Millionenstädten wie Peking allerdings voraus hat: „Man kann das Wasser aus der Leitung trinken und die Luft atmen“, sagt Wallner.

Auf Umweltqualität baut auch die Imagekampagne, die Vizelandeshauptmann Michael Schickhofer am kommenden Montag für die Obersteiermark starten wird. Tatsächlich sind Industrie und Umwelt - zumindest in Europa - inzwischen vereinbar: Das Werk in Kapfenberg wird einen Elektrolichtbogenofen haben, der mit Strom aus 100 % erneuerbaren Quellen Edelstahl kocht.

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