Jahreswechsel: Glücklich ist, wer vergisst
Momentan stecken viele den Sand in den Kopf“, war kürzlich in einem KURIER-Interview zum Thema Klimawandel zu lesen. Auch wenn die Zeiten schlecht sind: Das sollte man nicht tun. Sand in den Kopf zu stecken, ist ungesund und schlägt im schlimmsten Fall dem Fass die Krone aus.
Mit der Schlagzeile „2022 wird unser Jahr“ haben wir das Jahr begonnen. „Schluss mit traurig!“, lautete der Titel des Leitartikels. Und in der Glosse auf Seite 1 hieß es: „365 weiße Kalenderseiten liegen vor uns und warten darauf, mit neuen Geschichten beschrieben zu werden.“
Das Jahr beenden wir jetzt mit dem Blattaufmacher „Glücklich ist, wer vergisst“.
Irrsinn
Und da war ja tatsächlich einiges, was ums Vergessenwerden bettelte: Ein Mann mit Zarenkomplex überfällt sein Nachbarland, anstatt zum Psychotherapeuten zugehen, möglicherweise, weil er die eigene Vergänglichkeit nicht erträgt. Zigtausende Menschen verloren durch diesen Irrsinn ihr Leben.
Im Iran und in Afghanistan gehen Menschen unter Lebensgefahr auf die Straßen, um für ihre Freiheit einzutreten. Alte, weiße Männer krallen sich verzweifelt an ihre angeblich von Gott gegebene Macht und schrecken vor staatlichem Mord nicht zurück.
Hunderttausende Menschen fliehen aus Hoffnung auf ein besseres Leben aus ihrer Heimat, und uns fällt nicht viel mehr ein, als panisch Zäune zu bauen, wissend, dass das auf Dauer keine Lösung sein wird.
Über den Klimawandel wird viel geredet, der Klimawandel redet nicht mit und wandelt immer radikaler vor sich hin. Wirtschaftskrise und Inflation haben ausführlich Gelegenheit, weite Teile der Bevölkerung finanziell unter Druck zu setzen. Und dann ist da draußen auch noch ein Virus ohne Leine und Beißkorb am Werk, und wir hoffen verzweifelt, dass keine neue Mutation auf dumme Ideen kommt.
Die Queen ist tot, Karl Merkatz ist tot, Pele ist tot. André Heller war verhaltensoriginell, Roger Federer hat geweint, und „Weber und Breitfuß“ war auch schlecht.
Vergessenskultur
Höchste Zeit also für eine neue Vergessenskultur? Es gibt ein Menschenrecht auf Verdrängung, sagte einmal ein sehr kluger Psychologe zum Autor dieser Zeilen. Unklug ist es nur, im Verdrängen der Vergangenheit zu verharren und dadurch die Zukunft zu verpassen.
Gönnen wir uns also zum Jahresbeginn ein paar Tage des Vergessens – übrigens: fordern wir unser Recht auf gute Unterhaltung ein! Und danach wachen wir wieder auf.
Was so hilflos macht: die Machtlosigkeit. Der Einzelne kann weder Putin das Schießgewehr aus der Hand nehmen, noch den Klimathermostat runterdrehen, noch die Bierpreise senken, selbst, wenn er sich ein Cape überzieht. Aber gemeinsam sind wir stark. Sagen Sie jetzt nicht, das ist banal! Es ist banal, aber es stimmt. Vor allem: Es ist unsere einzige Chance.
Mut
Zwei Drittel der Menschen halten die Politiker für unfähig und korrupt. Lassen wir den Politikern das nicht durchgehen. Seien wir so lange unbequem, bis sie uns das Gegenteil beweisen müssen.
Verlieren wir nicht das Vertrauen in die Menschheit, sich zu ändern und Schlechtes durch Gutes zu ersetzen.
Der Schauspieler William Shatner, berühmt geworden als Kapitän des Raumschiffs Enterprise, hat als über Neunzigjähriger einen Weltraumflug absolviert. Und nachher gesagt: Im All habe er begriffen, dass die großen Abenteuer nicht dort draußen, sondern auf der Erde liegen, die wir im Begriff seien, zu zerstören: „Die Erde ist unsere einzige Heimat.“
Neue Geschichten
Seien wir freundlich, zu uns und zueinander und zur Erde. Bleiben wir wach. Bleiben wir kritisch. Bleiben wir hoffnungsvoll. Vergessen wir nicht, zu lachen. 365 weiße Kalenderseiten liegen vor uns und warten darauf, mit neuen Geschichten beschrieben zu werden. Beschreiben wir sie.
Glücklich ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist. Mutig ist, wer ändert, was noch geändert werden kann.
Und vergessen wir vor allem darauf, den Sand in den Kopf zu stecken.
Ein Witz
Und zum Abschluss, weil gerade Zeit ist, noch ein Witz, er passt gut in die Zeit:
Ein Mann geht jeden Tag in eine Bar und bestellt immer zwei Bier und zwei Wodka. Irgendwann fragt ihn der Barmann: Wieso immer zwei Getränke? Der Mann sagt: Ich habe einen Bruder, wir stehen uns sehr nahe, aber er ist nach Australien ausgewandert. Und wir haben uns ausgemacht, immer, wenn wir etwas trinken gehen, bestellen wir für den anderen mit.
Eines Tages kommt der Mann wieder in die Bar und bestellt – ein Bier und einen Wodka. Um Gottes Willen, fragt der Barkeeper, ist was mit Ihrem Bruder? Nein, sagt der Mann. Aber ich hab’ zum Saufen aufgehört.
Rückblick 2022: Glücklich ist, wer vergisst
Es war ein schwieriges Jahr – für Politik, Wirtschaft, Medien und viele andere Bereiche. Gut, dass es vorbeigeht. Auf ein besseres 2023!
Von A wie Armutsgefährdung bis Z wie „Zähne zusammenbeißen“ (Van der Bellens Rat mit der Teuerung umzugehen): Das Jahr ist reich an negativen Schlagzeilen, die sich nicht nur in sinkenden Wirtschaftsprognosen und zweistelligen Inflationsraten widerspiegeln.
Das Vertrauen in die Politik ist 2022 – erst ob Corona, dann ob der Krise sowie dessen, was der ÖVP-Korruptions-U-Ausschuss sowie zahllose Chats zutage förderten – drastisch auf einen Tiefststand gesunken. Nur 33 Prozent vertrauen laut Demokratiemonitor der Regierung – 38 Prozent dem Parlament.
Selbst für Kanzler Karl Nehammer hat die Politik ein „miserables Bild“ abgegeben. Selbiges zu ändern oder zu korrigieren, kann mit der Klausur im Jänner beginnen.
von Johanna Hager
Wenn es einen Grund gibt, das 2022er-Jahr schnell zu vergessen, dann heißt dieser Wladimir Putin. Der Kremlchef entfachte einen Krieg, der eher ins sehr frühe 20. Jahrhundert gepasste hätte, und beendete damit die Nachkriegsordnung in Europa.
So weit, so schlecht – zumal, wenn man die Kollateralschäden wie Hunger-, Energie- und Teuerungskrise mit ins Kalkül zieht. Aber kein Schatten ohne Licht: Europa (sagen wir, weiteste Teile davon) hat sich nicht spalten lassen von dem Möchtegern-Zaren, besinnt sich seiner Stärken und hält jene Werte hoch, für die Menschen Jahrhunderte lang gekämpft haben.
So weit, so gut. Und wenn Putins Waffengang vielleicht nächstes Jahr endet, wird das 2023er-Jahr nicht vergessen, sondern in die Geschichte eingehen.
von Walter Friedl
Hohe Energiepreise haben die Inflation auf Spitzenwerte in der Zweiten Republik getrieben. Viele Österreicher können sich Heizen, Wohnen oder Einkaufen nicht mehr leisten. Die Regierung versucht mit Steuerreform, Zuschüssen und Übergewinnsteuer für Energiekonzerne dagegen zu steuern. Und auch die Pensionen und Gehälter steigen entsprechend an.
Noch sind die Lohnerhöhungen und Hilfen aber bei vielen Menschen nicht angekommen. Entsprechend ist die Stimmung in weiten Teilen der Bevölkerung im Keller. Dort müsste sie aber nicht sein, meinen Ökonomen.
Ja, die Preise werden auch 2023 noch steigen – aber nicht mehr in diesem Ausmaß. Und der Arbeitsmarkt sollte trotz einer kurzen und leichten Rezession stabil bleiben.
von Robert Kleedorfer
Einen unbekümmerten Sommer haben sich wohl alle gewünscht – stattdessen endete ein Badetag im August mit einer Tragödie. Zwei Mädchen wurden bei einem Unwetter
in Kärnten von Bäumen erschlagen.
Auch in den folgenden Monaten sollte das Klima zeigen, wie ausgeliefert man im Falle des Falles ist. So auch vor wenigen Tagen, als eine Lawine in Vorarlberg mitten auf einer Skipiste abging. Ums Leben kam in diesem Fall keiner.
Hatte man das Glück, weder zwischen Sturmböen noch Schnee geraten zu sein, kann man all das schnell von sich wegschieben. Erinnern sollte man sich aber daran, dass unser Handeln sehr wohl das Klima beeinflusst. Im Ernstfall ist man vielleicht ausgeliefert, das heißt aber nicht, dass man im Vorfeld machtlos ist.
von Agnes Preusser
Das Gute am Sport ist, dass er beim Vergessen hilft. Weil er Zerstreuung und Unberechenbarkeit in unseren sehr monotonen Alltag spült. Und weil er kaum Pausen kennt: Noch kurz vor dem Jahreswechsel wurden Darts-Pfeile geworfen, Skier auf Schanzen getragen, Motoren gezündet (Rallye Dakar), Fußbälle getreten (in Spanien, Frankreich und in England etwa).
Das teilweise sehenswerte, aber auch umstrittene WM-Spektakel von Katar, zu Ende gegangen erst am 18. Dezember, wirkt da schon wieder fast ewig weit weg. Außerdem: Nichts sorgt für einen klareren Kopf als Bewegung. Also, rein in die Sportschuhe! Es wird ohnehin ein milder Jahreswechsel.
Nicht zum Vergessen sind die Sporthöhepunkte 2023, zu finden heute im Sportteil.
von Philipp Albrechtsberger
Das Kulturjahr begann mit einer Watsche bei der Oscarverleihung – und das gab die Tonalität auch des Folgenden vor: Lange musste man die besondere Feinfühligkeit und Erkenntnisstärke von Kulturschaffenden in den Diskussionen um die Reste von Corona, um den Umgang mit russischen Künstlern oder die gefühlte Cancel Culture suchen. Kaum jemand rang sich hier zu einem zweiten Gedanken durch, das war großteils zum, ja, Vergessen.
André Heller hat seinem eigenen Image einen falschen Rahmen spendiert, die aufgeregte Suche nach einem neuen Burgtheaterchef endete mit einem ganz, ganz leisen Knall, viele gute Filme fanden so gut wie keine Zuseher und das neue Bilderbuch-Album war fad ohne Ende. Das geht besser!
von Georg Leyrer
Kommentare