Kern: EU braucht "grundsätzliche Überholung"

Angela Merkel steht zwischen Viktor Orbán und einem weiteren Mann.
Eine Abfuhr gab es in Bratislava für Kerns Forderung nach einem Abbruch der Türkei-Gespäche.

Nach Ansicht von Bundeskanzler Christian Kern braucht die Europäische Union eine "grundsätzliche Überholung ihrer Institutionen und Entscheidungsmechanismen". Schnell wird das aber nicht möglich sein. Eine Überholung sei angesichts unterschiedlicher Meinungen über die Zukunft der EU und derzeit zu lösender konkreter Probleme in Wirtschafts- und Flüchtlingspolitik schwer zu erreichen. Die Europapolitik sei geprägt vom "Kampf um Fortschritte, um kleine".

Keine Fortschritte in Flüchtlingsfrage

Einen Tag nach dem EU-Gipfel in Bratislava räumte der SPÖ-Chef am Samstag auf Ö1 ein, dass es in der Frage der Verteilung von Flüchtlingen auf die EU-Staaten keine Fortschritte gegeben hat. "Da wird man weiter Druck machen müssen", sagte der Kanzler in Richtung Visegrad-Gruppe (V4) und ging auf Distanz zu Ungarn, Polen, Tschechien und die Slowakei, die auf dem Gipfel in Bratislava ihren Konzeptvorschlag für die Zukunft der Europäischen Union vorgelegt hatten. Darin fordern sie unter anderem mehr Mitspracherechte für die nationalen Parlamente und stemmen sich gegen eine verpflichtende Flüchtlingsquote. "Die Einschätzungen der Visegrad-Staaten teile ich nicht", sagte Kern.

"Wir müssen wissen, wer nach Europa kommt."

Einen "großen Fortschritt" nannte der Bundeskanzler dagegen den Gipfelbeschluss zur Entsendung von 200 zusätzlichen Frontex-Kräften sowie 50 Lastwägen nach Bulgarien zum verstärkten Schutz der EU-Außengrenze mit der Türkei: "Wir müssen wissen, wer nach Europa kommt."

Renzis Unzufriedenheit verständlich

Verständnis zeigte Kern für seinen Amts- und Parteikollegen Matteo Renzi aus Italien, das sich wirtschaftspolitisch und in Sachen Flüchtlingsströme besonders herausgefordert sieht. Renzi hatte sich unzufrieden mit den Ergebnissen von Bratislava gezeigt und trat danach nicht mit der deutschen Kanzlerin Angela Merkel und dem französischen Präsidenten Francois Hollande gemeinsam auf. Kern sagte, er habe die Einschätzungen Renzis "sehr geteilt". Es dürfe nicht nur um Prozesse zur Lösung von Problemen gehen, sondern Lösungen müssten klar vorangetrieben werden.

Abbfuhr für Kern

Eine Abfuhr gab es für Kern in Bratislava in Sachen Türkei-Gespräche. "Sie werden wohl fortgesetzt werden", sagte Kern dazu Freitagabend in der ZiB2. Dass andere EU-Staaten auf dem EU-Gipfel in Bratislava keinen Abbruch wollten, erklärte der SPÖ-Chef mit "großen Sorgen, dass die Flüchtlingsvereinbarung mit der Türkei nicht hält". Kern selbst hatte einen Abbruch gefordert.

"Ich bin ganz fest überzeugt, dass die Türkei, so wie sie dasteht, nicht der EU beitreten wird."

"In der Analyse" erfahre die österreichische Position zu den Türkei-Beitrittsverhandlungen durchaus Zustimmung, sagte Kern mit Blick auf die wirtschaftliche und demokratische Entwicklung des Kandidatenlandes. "Ich bin ganz fest überzeugt, dass die Türkei, so wie sie dasteht, nicht der EU beitreten wird."

Kern: EU sollte sich "nicht auf andere Staaten verlassen"

Er glaube zwar nicht an ein Scheitern des EU-Türkei-Deals, doch sollte sich die EU "nicht auf andere Staaten verlassen" und stattdessen "unsere Hausaufgaben erledigen", forderte Kern einen besseren Schutz der EU-Außengrenzen in der ZiB2. Es gehe aber auch darum, die Fluchtursachen zu bekämpfen. "Wenn wir riesige Grenzzäune errichten, dann findet das Elend halt hinter dem Grenzzaun statt", argumentierte Kern.

Kern gegen Ausschluss Ungarns

Zu den markigen Sprüchen des ungarischen Regierungschefs Viktor Orban, der in Bratislava von einer "selbstzerstörerischen" Einwanderungspolitik gesprochen hatte, sagte Kern: "Hinter verschlossenen Türen ist es deutlich gesitteter." Die ungarische Position, jegliche Aufnahme von Flüchtlingen abzulehnen, sei aber "nicht akzeptabel". "Wir werden zu dem Punkt kommen, wo man klare Bekenntnisse verlangt", kündigte Kern an. Die EU-Mitgliedsstaaten müssten nämlich auch Lasten übernehmen. Zunächst gehe es aber um Hilfe an Ort und Stelle und den Schutz der Außengrenze. Wenn dies gelinge, werde auch die Frage der Verteilung der Flüchtlinge in Europa "leichter zu beantworten sein".

Von einem EU-Ausschluss Ungarns hält Kern nichts. "Wenn man diesen Weg weitergeht, endet das mit noch mehr Zerstörung", sagte er im ORF-Fernsehen.

Kern steht trotz ÖVP-Attacken zu Koalition

Kern hält außerdem trotz der jüngsten Attacken des Koalitionspartners an der Zusammenarbeit mit der ÖVP fest. Sie sei "eindeutig" sein Wunschpartner für die Umsetzung seiner Vorhaben, sagte er am Samstag auf Ö1. Dass er ein "linker Ideologieträger" sei, wies Kern jedoch als "vollkommenen Unsinn" zurück. Er habe die Kritik mit Schmunzeln zur Kenntnis genommen, meinte der Kanzler über die ÖVP-Reaktionen auf seinen Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in dem er einen grundsätzlichen Kurswechsel in der europäischen Wirtschaftspolitik und die Abkehr vom EU-Sparkurs gefordert hatte. Erwartet hätte er sich ein Gegenkonzept, so Kern, und nicht den Vorwurf, für Schuldenmacherei zu stehen.

Sein Fazit: "Meine Umfragewerte haben offenbar dem einen oder anderen nicht gepasst. Da versucht man halt, irgendwie dagegen zu arbeiten, und das ist dann das Ergebnis."

Kommentare