Am 29. Dezember des Vorjahres saßen im Gesundheitsministerium Juristen aus dem Haus mit Experten der Krisenstäbe und des Kanzleramtes zusammen, um eine heikle Frage zu klären: Wie genau soll das „Freitesten“ nun in der Praxis funktionieren – und wie kann es gesetzlich geregelt werden?
Damals gingen die Juristen noch davon aus, dass die Regierung bei ihrem Plan bleibt, der da lautete: Wer einen aktuellen und negativen Corona-Schnelltest vorweisen kann, der soll sich „freitesten“ können – der Lockdown wird verkürzt.
Am Ende wurde der Plan verworfen, das „Freitesten“ gab es nicht. Eine grundsätzliche Frage, die damals erörtert wurde, blieb aber bis heute bestehen, nämlich: Was ist eigentlich mit den Menschen, die Corona schon hatten? Und: Wie geht man mit Bürgern um, die eine Schutzimpfung bekommen haben? Gibt es ein „Freiimpfen“?
Noch ist unklar, ob Geimpfte das Virus weitergeben können. Doch zuletzt mehrten sich die Hinweise, dass etwa der zugelassene Wirkstoff von Biontech/Pfizer auch vor einer Weitergabe der Coronaviren schützt. In Tierversuchen wurde ein entsprechender Effekt nachgewiesen, und der Geschäftsführer von Pfizer sprach von „ermutigenden Daten“, kurzum: Sollte sich die Hoffnung bestätigen, dann muss die Regierung eine Antwort liefern, ob für die täglich wachsende Gruppe der Geimpften (mit Stand Montag waren es mehr als 170.000) weiterhin der Lockdown gilt.
Für Grundrechts- bzw. Verfassungsexperten ist die Sache klar: Sobald medizinisch erwiesen ist, dass Geimpfte die Krankheit nicht übertragen, können für sie keine Ausgangsbeschränkungen gelten.
„Wenn ich weder für mich selbst noch für andere eine Gefahr darstelle, fallen die sachlichen Gründe für die Grundrechtsbeschränkungen weg“, sagt Verfassungsrechtler Heinz Mayer zum KURIER.
Deckungsgleich beurteilen das Experten wie Bernd-Christian Funk (Uni Wien, Gründungsdekan Sigmund-Freud-Privatuni) und Christoph Bezemek, der Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz. „Wenn die Impfung vor einer Weitergabe der Krankheit schützt, muss für Geimpfte wieder der Normalzustand gelten“, sagt Funk. Er verweist darauf, dass der Staat die Verpflichtung hat, „vor Grundrechtseingriffen sachlich zu begründen, warum er dies tut“. Fällt die Begründung weg, dürfe es keine Beschränkungen geben.
Das bisweilen gebrachte Argument, dass derzeit nicht alle Menschen eine Impfung bekommen, die sie wollen, zieht nicht.
„Es ist die Pflicht des Staates, den höchstmöglichen Grad an Grundfreiheiten zu ermöglichen“, sagt Bezemek zum KURIER. Dass nicht alle Menschen gleichzeitig geimpft werden können, ändere nichts an der individuellen Freiheit des Einzelnen.
Die Impfordnung bzw. -strategie ist für ihn ein gutes Beispiel dafür, dass die öffentliche Hand auch bei knappen Gütern angehalten sei, ordnend einzugreifen. „Es ist geboten, die Impfungen nicht nach dem Zufalls- oder ‚First come, first serve‘-Prinzip zu verteilen, sondern sachlich zu begründen.“ Und das tue man mit dem Argument, dass man Risikopatienten zuerst impft bzw. schützt, um die Gesellschaft vor einem Kollaps des Gesundheitssystems zu bewahren.
Im Gesundheitsministerium ist man sich der Problematik zumindest bewusst. „Je größer die Gruppe der Geimpften und Genesenen wird, desto wichtiger werden solche Überlegungen“, heißt es im Büro von Rudolf Anschober zu der Frage, ob Geimpfte nicht bald anders behandelt werden müssen als nicht Geimpfte.
Derzeit könne man dazu aber keine endgültige Antwort geben. Denn es gebe „noch keine hinreichenden Daten“ zum Übertragungspotenzial bei Geimpften.
Kommentare