„Die frühen Putin-Jahre waren geprägt davon, dass das System die Fähigkeit hatte, ideologisch alles und nichts zu sein. Dadurch wurde man zu einem großen politischen Dach, unter dem alles Platz hatte, vom Stalinisten bis zum Liberalen.“
Hohe Erdöl- und Erdgaspreise hätten Geld in die Kassen des Kreml gespült. Putin habe die Gelegenheit genutzt, um den Lebensstandard der Bürger zu verbessern. Man habe auch politische, gesellschaftliche, künstlerische Freiheiten gewährt: „Eine Freiheit, die Putin in diesen Jahren, als seine Popularität unsinkbar schien, locker kontrollieren konnte.“
Damit sei es vorbei. Fallende Energiepreise, Wirtschaftssanktionen des Westens, all das machte das Leben der Russen härter – nicht nur wirtschaftlich und sozial: „Heute gibt es eine Parteilinie. Jetzt fordert der Staat Gehorsam und Anpassung – es gibt daher immer mehr Menschen, die er als nicht vertrauenswürdig, illoyal und daher als Verräter betrachtet.“
Um die Mehrheit der Russen für eine härtere Linie zu gewinnen, habe Putin auf Nationalgefühl gesetzt. Die Besetzung der Krim, das großspurige Auftreten auf der Weltbühne von Syrien bis Libyen: „Was er bei den Russen damit anspricht, ist das sogenannte ,Post-Imperiale-Syndrom‘, also die Sehnsucht nach der verlorenen Größe, nach der weltpolitischen Bedeutung.“
Doch mit den Jahren der Krise hätten diese Großmacht-Gesten an Wirkung verloren: „Mehr und mehr Russen wünschen sich ein Ende der Konfrontation mit dem Westen und gute Beziehungen. Das ist Putins Problem, und darum muss er jetzt mit mehr Härte agieren.“ Härte gegen Kritiker werde demonstrativ eingesetzt, als politisches Signal – und dieses Signal hätten die Bürger empfangen: „Die meisten haben erkannt, dass es nichts bringt, gegen das System aufzutreten.“
Homo sovieticus
In seinem aktuellen Russland-Buch „Die Überlebenskünstler“ greift der Journalist auf den alten Begriff des „homo sovieticus“ zurück, jenen Bürger der UdSSR also, der in Jahrzehnten der Unterdrückung seinen eigenen Umgang mit dem System entwickelt habe: „Dieser Umgang besteht daraus, dass man weder gehorcht, noch sich auflehnt, sondern nur versucht, das System zu überlisten, auszumanövrieren, auf seinen eigenen Vorteil zu achten. Das geht natürlich auch auf die Erfahrungen in der Sowjetunion und den Umgang mit dem damaligen System zurück.“
Doch gegen die im Westen so populäre Vorstellung von den Russen als brave Untertanen eines autoritären Systems verwehrt sich der Reporter. Die Menschen hätten sich einfach in das anscheinend ohnehin unvermeidliche gefügt, sich ihre eigene kleine Freiheit geschaffen: „Die Antwort der Russen ist, dass sie sich von der Politik abwenden, dass sie die Lösung ihrer Probleme für sich selbst und ihre Familien suchen, dorthin ziehen sie sich zurück.“
Daher aber seien auch Oppositionelle wie Alexej Nawalny keine wirklich relevanten politischen Größen. Nawalny werde nicht als Alternative zu Putin wahrgenommen, sondern als Kritiker des Systems, als Aufdecker, der die Korruption im Machtapparat aufzeige, „nur das macht ihn zur Gefahr für Putin. Es kratzt an seinem Image“.
Doch so etwas wie eine revolutionäre Bewegung kann Joshua Yaffa nicht erkennen, trotz des gesunkenen Lebensstandards für viele. Putin habe nämlich zumindest eine Botschaft nachhaltig bei seinen Landsleuten angebracht: „Er war erfolgreich darin, klar zu machen, dass es keine Alternative zu ihm gibt.“
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