Wie Europa einen Stopp von russischem Gas überstehen will

Ein Flüssiggastanker. Drei Viertel des aus den USA exportierten Flüssiggases gehen mittlerweile in die EU
Einer für alle – alle für einen EU-Staat – so müsste es im Idealfall sein, wenn Russlands Präsident Wladimir Putin Europa wie befürchtet irgendwann das Gas abdreht. Zwölf EU-Staaten, darunter Österreich, spüren den langen Arm des Kreml bereits: Ihre Versorgung mit russischem Erdgas wurde entweder reduziert oder gleich ganz gekappt. Und so war die Nervosität der EU-Energieminister bei ihrem Treffen am Montag in Luxemburg groß.
„Die Lage ist ernst, und wir dürfen wirklich keine Illusionen haben“, warnte Umwelt- und Energieministerin Leonore Gewessler, „Russland nützt die Energielieferungen, um uns zu erpressen.“

Der deutsche Energieminister Habeck (l.), EU-Kommissarin Simson, Österreichs Energieministerin Gewessler (r.)
Kein Staat in Europa werde auf sich allein gestellt die Krise bewältigen, befürchtet auch der deutsche Energieminister Robert Habeck. Im Gegenteil drohe eine Kettenreaktion: „Eine Versorgungskrise in einem Land führt zu einer Wirtschaftskrise in einem anderen“, sagte Habeck.
Erste Nothilfe
Erste Schritte, wie eine solidarische Notversorgung mit Gas aussehen kann, wurden bereits gesetzt: So unterzeichnete Österreich gestern gemeinsam mit den Nachbarn Deutschland, Tschechien, der Slowakei, Ungarn sowie mit Polen eine Absichtserklärung, sich bei akuter Energiekrise gegenseitig zu helfen.
Gefüllte Speicher
Zudem beschlossen die Energieminister, dass die Gasspeicher in der EU bis 1. November zu mindestens 80 Prozent gefüllt sein müssen. Derzeit beträgt ihr Füllstand im Schnitt 55 Prozent (im Jahresvergleich 57%), die Speicher in Österreich kommen derzeit nur auf 40 Prozent. Doch ihre Volumen sind unverhältnismäßig groß. Österreich speichert auch für Slowenien mit, das selbst über keine Gasspeicher verfügt.
Sollte kein Gas aus Russland mehr fließen, darf auch Österreich die Versorgung nach Slowenien nicht stoppen. Der südliche Nachbar müsste dennoch eine Gasmenge erhalten, die mindestens 15 Prozent seines Jahresverbrauchs entspricht.
Der nächste Winter naht, und die umfassende Versorgung Europas mit Gas ist noch nicht geschafft. Über eine gemeinsame Plattform können die EU-Staaten freiwillig und unter Federführung der EU-Kommission weltweit Gas beschaffen. Doch das Projekt ist noch nicht voll angelaufen. Noch immer besorgen sich die meisten Staaten bzw deren Energiefirmen die benötigten Reserven selbstständig.
Das treibt die Preise weiter nach oben, einige Staaten wollen sich der gemeinsamen Einkaufslinie auch gar nicht anschließen. Was in Brüssel die Sorgen schürt, dass es mit der europäischen Solidarität im Ernstfall nicht weit her sein könnte:
„Das größte Risiko bei einem Stopp der russischen Lieferungen wäre eine Situation, wenn die Länder mit dem Schließen ihrer Energiemarktgrenzen reagieren“, warnt Energie-Experte Simone Tagliapetra vom Think Tank Bruegel gegenüber Bloomberg.
Die händeringende Suche der EU-Kommission nach neuen Gasanbietern zeigt erste Erfolge: Statt wie bisher 40 Prozent kommen derzeit nur noch 20 Prozent der EU-Gasimporte aus Russland.
Der Löwenanteil der neuen – aber extrem teuren Flüssiggaslieferungen (LNG) stammt aus den USA und Kanada. Auch aus Norwegen fließt mehr Gas. Absichtserklärungen für LNG-Lieferungen schloss die EU vor Kurzem mit Ägypten und Israel ab. Entsprechende Gespräche sind im Juli mit Aserbaidschan geplant. Auch aus Qatar, Algerien und Nigeria hofft die EU, bei ihren gemeinsamen Einkäufen mehr Gas zu beziehen.
Das große Zittern
Das große Zittern aber kommt im Juli: Dann muss die wichtigste Pipeline für die Gasversorgung Westeuropas, die Nordstream 1, zehn Tage lang plangemäß für Wartungsarbeiten geschlossen werden. Und die Nerven liegen blank, denn niemand kann derzeit sagen, ob danach noch weniger Gas fließen wird - oder gar keines mehr.
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