Warum ist die Zahl der Corona-Toten in den Niederlanden so hoch?
"Wir haben es noch lange nicht geschafft", warnte der niederländische Premier Mark Rutte am Dienstagabend. Mit Stand 1. April gibt es in dem Königreich 13.614 getestete Corona-Infizierte. 1.173 Menschen sind bisher gestorben und mehr als tausend Menschen werden auf Intensivstationen behandelt.
Zum Vergleich die Zahlen in Österreich: Mittlerweile wurden 10.482 Personen positiv getestet. 146 Todesopfer gab es im Zusammenhang mit Covid-19 und 215 Menschen wurden zu diesem Zeitpunkt intensivmedizinisch betreut.
Derzeit werden in den Niederlanden jeden Tag zwischen 100 und 150 neue Todesopfer gemeldet, was in Österreich der bisherigen Gesamtzahl (!) an Toten entspricht.
Nun weist Österreich mit 8,8 Millionen ziemlich genau die Hälfte der Einwohnerzahl der Niederlande (17,2 Millionen) auf. Wie ist erklärbar, dass es dort aber acht Mal so viele mit der Lungenkrankheit assoziierte Todesfälle gibt?
Die Dunkelziffer
Die Antwort kann, selbst wenn man einen Vergleich der Gesundheitssysteme und der Altersstruktur der jeweils Erkrankten anstellen würde, nur lauten: Die Dunkelziffer der tatsächlich infizierten Personen in den Niederlanden muss um ein Vielfaches höher sein.
Die Behörden geben dies auch zu. In den Niederlanden werden bisher nur Schwerkranke und das Personal im Gesundheits- und Pflegewesen auf das Virus getestet. Nur bei Menschen in Altersheimen sind auch bei leichteren Symptomen Testungen vorgeschrieben.
Österreich hielt am Mittwoch laut Gesundheitsministerium bei mehr als 55.000 Tests.
In den Niederlanden wird die Anzahl an Testungen nicht täglich bekanntgegeben. Am 25. März, also vor einer Woche, waren es 23.000 durchgeführte Tests. Geht man von der derzeit genannten Zahl von rund 4.000 Tests pro Tag aus, würden die Niederlande ungefähr auf die Zahlen von Österreich kommen. Pro Kopf gerechnet wären das allerdings nur halb so viel Tests wie hierzulande.
(Am Donnerstag wurden die Testungen in Österreich auf 92.000 nach oben korrigiert, Anm.)
Mehr Tests geplant
In den nächsten Wochen wolle man auf 17.500 Tests pro Tag aufstocken, sagt der niederländische "Corona-Minister" Hugo de Jonge. Das entspräche ungefähr der kürzlich von Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) genannten Zielvorstellung von 15.000 Testungen pro Tag für Österreich.
In weiterer Folge, so hofft de Jonge, soll die Testkapazität auf 29.000 pro Tag erhöht werden.
Das erscheint als Gebot der Stunde. Denn ein möglichst breites Testen, eine Rückverfolgung von Kontakten und anschließende Quarantäne gelten etwa in Südkorea als Schlüssel zur Eindämmung der Infektionen.
In Österreich kommt man derzeit auch nicht auf mehr als 5.000 Testungen pro Tag. Am Dienstag begann aber ein groß angelegter Stichprobentest. Über ein repräsentatives Sample von zufällig ausgewählten 2.000 Österreichern sollen Erkenntnisse über die mögliche Gesamtzahl der Infizierten gewonnen werden.
"Kickstart" durch Karneval?
In den Niederlanden trat der erste positiv auf Corona getestete Fall zwei Tage nach dem ersten offiziellen Fall in Österreich auf: Am 27. Februar in Nord-Brabant. Die südöstliche Provinz entwickelte sich zum Hotspot der Niederlande mit der höchsten Dichte an Erkrankungen. Bisher galt der Italien-Urlauber Joost B. aus der Gemeinde Loon op Zand als "Patient null".
Vergangenen Freitag wurde allerdings Datenmaterial aus den Tests an 1.353 Mitarbeitern in zwei Krankenhäusern der Region veröffentlicht. Dieses zeichnet ein anderes Bild. Bei sieben der 86 positiv getesteten Mitarbeiter der Krankenhäuser in Tilburg und Breda sollen entsprechende Beschwerden bereits früher aufgetreten sein. Bei einer Person gar schon am 19. Februar. Das würde, anders als bisher vermutet, eine Ansteckung schon vor den großen Karnevalfeierlichkeiten in Nord-Brabant bedeuten.
Der Leiter des Krankenhauses ETZ in Tilburg, Bart Berden, geht daher davon aus, dass die bisherige Geschichte des niederländischen "Patienten null" neu geschrieben werden müsse. Auffallend sei gewesen, dass fast die Hälfte der positiv Getesteten kein Fieber hatte und eine vergleichbare Anzahl keine laufende Nase oder Erkältungssymptome hatte. Daher seien viele dieser Mitarbeiter noch zur Arbeit gegangen.
Der Karneval sei allerdings "wirklich ein Kickstarter" für das Coronavirus in den Niederlanden gewesen, sagte der Mediziner in dem Interview mit der Regionalzeitung Brabants Dagblad. Man sehe jetzt ein "bemerkenswert schnelles Wachstum" der Zahl der Covid-19-Patienten an mehreren Orten außerhalb von Brabant. Mittlerweile stammen die meisten neuen bestätigten Covid-19-Fälle in den Niederlanden aus dem Raum Amsterdam.
Auch im benachbarten Nordrhein-Westfalen (Deutschland) wurden die meisten Karnevalsfeiern vom 20. bis 25. Februar abgehalten, während der Karneval von Venedig in Italien längst abgesagt war. Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) geht in dem ohnehin relativ stark vom Virus betroffenen deutschen Bundesland von einer hohen Dunkelziffer aus. Ihm zufolge rechnen Mediziner damit, dass die Zahl der Menschen, die das Coronavirus ohne Symptome hätten, sieben- bis zehnmal höher liege als die offizielle Zahl.
Kehrtwende
Möglicherweise wurde in den Niederlanden auch Zeit verschenkt. Mitte März musste Premierminister Rutte viel Kritik einstecken, als er in einer Fernsehansprache erklärte, dass die Regierung das Konzept der Herdenimmunität verfolgen wolle. Dass sich ein großer Teil der Bevölkerung im Laufe der Zeit mit SARS-CoV-2 infizieren werde, sei praktisch nicht zu verhindern, meinte er. Das Konzept, lediglich die ältere Bevölkerungsgruppe zu isolieren, wurde von Epidemiologen und Gesundheitsexperten als "riskant" kritisiert.
Rutte korrigierte daher kurz darauf, am 19. März, den Kurs: Herdenimmunität sei nicht das Ziel, sondern "ein Nebeneffekt" der Regierungsstrategie. Es sei nicht das Ziel, dass möglichst viele Personen infiziert würden.
Mittlerweile sind die Niederländer längst auf den restriktiven Kurs der meisten europäischen Staaten eingeschwenkt. Schulen, Museen, Restaurants und Cafés bleiben geschlossen, öffentliche Veranstaltungen verboten. Die Bürger sollen, soweit es geht, zu Hause bleiben. Und das bis vorerst 28. April, wie Rutte am Dienstag verkündete.
Niederlande will Bettenkapazität erhöhen
Vorerst ist noch keine Beruhigung der Lage in Sicht. Da die Kapazität der Intensivstationen in Nord-Brabant fast erschöpft ist, sollen nun noch mehr Patienten nach Deutschland gebracht werden. Zwei schwer Erkrankte wurden bereits in ein Krankenhaus nach Münster gebracht.
Auf den Intensivstationen werden landesweit nun deutlich über tausend schwerkranke Patienten behandelt. Die niederländischen Krankenhäuser wollen bis zum Ende der Woche die Kapazität auf 2.500 Intensiv-Betten für Covid-19-Fälle erhöhen.
Kommentare