Wie die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte mitteilte, warfen Hubschrauber der Assad-Armee Fassbomben auf das Dorf Kabana, das nur 10 km von der türkischen Grenze entfernt liegt. Die Regierung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan erwartet, dass bis zu eine Million Syrer versuchen könnten, sich auf türkischem Boden zu retten.
Erdoğan steht innenpolitisch unter Druck, weil viele Türken die Rückkehr jener 3,6 Millionen Syrer verlangen, die sich schon in ihrem Land aufhalten. Eine neue Fluchtwelle könne die Türkei nicht mehr verkraften, sagt der Präsident – und droht damit, „die Tore zu öffnen“ und die Menschen nach Europa zu schicken.
Diese Ankündigung hat in Europa die Furcht vor einer neuen Fluchtwelle wie im Jahr 2015 ausgelöst, doch Erdoğan dürfte seine Drohung kaum wahr machen. Wie sein Innenminister Süleyman Soylu kürzlich in einem TV-Interview sagte, würde sich die Türkei damit nur selbst schaden: Nach Öffnung der Tore Richtung Europa würde die Türkei zu einem Transitland für Millionen Menschen, die nach Westen wollten, sagte Soylu. Und dieser Ansturm würde „Terrorismus, Drogen und Verbrechen“ ins Land bringen.
Zahl der Flüchtlinge steigt
Zwar steigt die Zahl der Flüchtlinge, die von der türkischen Ägäis-Küste nach Griechenland übersetzen, wieder stark an: Die UNO zählte seit Anfang Mai knapp 31.000 Neuankömmlinge. Doch die meisten Flüchtlinge sind Afghanen und keine Syrer. Fast 10.000 Flüchtlinge aus Afghanistan registrierte die UNO in Griechenland seit Anfang 2019, aber nur 5300 Syrer.
Der Grund dafür liegt in der Unzufriedenheit der türkischen Wähler mit der Aufnahme der vielen Flüchtlinge aus Syrien. Besonders betroffen ist die Metropole Istanbul, wo bis zu 800.000 Syrer leben, viele von ihnen illegal. Die Behörden reagieren mit Razzien. Dabei nimmt die Polizei auch viele Afghanen fest und schiebt sie ab – seit Jahresbeginn schon 30.000. Deshalb fliehen viele Afghanen nach Griechenland.
Syrien-Krieg nicht auf den "Bahamas"
Erdoğans Drohung Richtung Europa hat einen weiteren Hintergrund. Der Präsident will zum einen europäische Politiker wachrütteln, die seit Jahren so tun, als finde der Syrien-Krieg weit weg „auf den Bahamas“ statt, wie Erdoğan-Berater Burhanettin Duran in einem Gastbeitrag schrieb. Ankara will mit der EU über neue Finanzhilfen im Rahmen des Flüchtlingspakts von 2016 sprechen, denn die zugesagten sechs Milliarden Euro sind inzwischen größtenteils ausgezahlt. Gleichzeitig will sich Erdoğan die Unterstützung der Europäer für sein Lieblingsprojekt in Syrien sichern: die Einrichtung einer „Sicherheitszone“ im kurdisch beherrschten Nordosten Syriens. In dieser Zone könnten bis zu drei Millionen syrische Flüchtlinge aus der Türkei angesiedelt werden, sagte Erdoğan.
Hans Jungbluth, Istanbul
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