Wandel: Deutsche Grüne in neuer Rolle

Wandel: Deutsche Grüne in neuer Rolle
Einst traten sie als Protestpartei an, zuletzt eilten sie in Deutschland von Erfolg zu Erfolg und versuchen, von früheren Feinden zu lernen.

Leichtfüßig sprintet Grünen-Chef Robert Habeck die Stufen zur Bundespressekonferenz in Berlin hinauf. Für andere ist es am Tag nach der Europawahl ein schwerer Gang. Während SPD und Union stark verloren, wurden die Grünen nach ihren Wahlerfolgen in Bayern und Hessen erstmals bei einer bundesweiten Wahl zweitstärkste Kraft. In den Umfragen stehen sie konsequent vor der SPD, überholten zwischenzeitlich einmal sogar knapp die Union.

Es ist eine neue Rolle, in der sich die Partei entdeckt, die vor mehr als 30 Jahren in den Deutschen Bundestag eingezogen ist. „Wir müssen die Grünen aussitzen“, sagte CDU-Kanzler Helmut Kohl 1983 zum US-Vizepräsidenten George Bush. Kohls Prognose: Die Ökos seien eine Übergangserscheinung und würden binnen zwei Jahren auseinanderbrechen. Es sollte anders kommen.

Die Grünen erlebten zwar Auf- und Abs, flogen 1990 aus dem Bundestag, lernten ihre Lektionen als kleiner Koalitionspartner der SPD unter Gerhard Schröder. Und sind heute in der bürgerlichen-liberalen Mitte angekommen. Wählerstromanalysen zeigen, dass sie neben der SPD auch der Union viele Wähler abspenstig gemacht haben.

Beobachter finden dafür viele Gründe: Frische Gesichter an der Parteispitze, ein positiveres Image als die Regierungsparteien, in Opposition haben sie den Vorteil, sich nicht in deren Debatten zu verzetteln. Und zuletzt wäre da noch der Klimaschutz, der den Menschen wichtiger geworden ist – ein urgrünes Markenthema. Weil der Klimawandel und seine Folgen kein singuläres Ereignis sind, wird es sie wohl noch länger beschäftigen, anders als nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima 2011. Damals erlebten die Grünen ein kurzfristiges Hoch.

Mit Blick auf ihren Machtanspruch versucht sich die Partei inhaltlich zu erweitern. Programmatisch waren sie schon früher breiter aufgestellt, als sie sich lange dargestellt haben, analysiert der Parteienforscher Michael Lühmann vom Göttinger Institut für Demokratieforschung. Im Süden gab es die Anthroposophen, im Norden konservative Landwirte, Atomkraftgegner, aber auch Friedens -und Frauenbewegte. Dazu kam die ganze neue Linke rein – aus diesem „Klumpen“ ist das Grüne, das Ökologische entstanden. Laut Lühmann war es ideengeschichtlich immer ein Zusammenschnitt von linken und bürgerlichen Ideen. Das hat die Partei für die Arbeit in den Bundesländern flexibel gemacht: Von Grün-Schwarz-Gelb bis Rot-Rot-Grün oder Grün-Schwarz sind sie mit sämtlichen Konstellationen erfahren. In Baden-Württemberg stellen sie den Ministerpräsidenten.

Dialog mit Wirtschaft

In konservativen Gefilden sind sie längst kein Bürgerschreck mehr. „Hier hat eine gegenseitige Annäherung stattgefunden, die so früher nicht vorhanden war“, stellt der Politologe Michael Freckmann fest. Leistungsgedanken, Kindererziehung und Ernährung gehen die Grünen heute pragmatischer an. Zudem versuchen sie, ihre wirtschaftliche Kompetenz zu erweitern. Im eigens gegründeten Wirtschaftsbeirat treffen sich Grün-Politiker mit Managern und Unternehmern – ausdrücklich mit jenen, die keine grünen Positionen vertreten, heißt es. Das Ziel: Austausch und Lernen.

Dass eine Grünen-Politikerin am Tag der Industrie in Berlin die Abschlussrede hält, war lange undenkbar. Die klassische Industrie galt lange als Feindbild, ebenso umgekehrt. Nun ist das anders: Robert Habecks Co-Chefin Annalena Baerbock bekam nach ihrer Rede dort mehr Applaus als ihr Vorredner Christian Lindner, Chef der liberalen FDP.

Nicht nur inhaltlich ist die Partei beweglicher geworden, auch personell: Das zeigt sich an der Doppelspitze Habeck/Baerbock. Beide vertreten realpolitische Positionen und bekommen intern scheinbar keinen Gegenwind. Die Richtungskämpfe, die die Partei von Beginn an begleiteten, scheinen Geschichte.

Nur eine Frage dürfte die Grünen künftig noch quälen: Eigener Kanzlerkandidat bzw. Kanzlerkandidatin, ja oder nein? Immer wieder stellen Reporter diese Frage. Sollte es so weiter gehen, müssen sie dies wohl klären.

Robert Habeck weicht da gerne aus, wie etwa am Tag nach dem Rekordergebnis bei der EU-Wahl. Es sei zwar wichtig, „dass dann vor einer Wahl rechtzeitig mit der Partei Klarheit geschaffen wird. Aber da sind wir ja nicht“, sagte Habeck. Die Koalitionsparteien Union und SPD büßten zwar seit der Bundestagswahl 2017 weiter Punkte ein, was sie aber (noch) zusammenhält, ist die Angst vor Neuwahlen.

Den aktuellen Umfragen nach, würden die Grünen davon profitieren. Der Weg Richtung Regierungsbeteiligung ist nicht unrealistisch, gleichzeitig haben sie auf den Weg dorthin noch andere Hürden zu meistern: Es braucht mehr Personal, Räume und Geld.

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