Brüchige Waffenruhe in Kiew: Wieder Tote

Das Euromaidan-Camp in Kiew während der Proteste mit Barrikaden und Zelten.
USA und EU strafen Janukowitsch ab: Washington verhängt Einreiseverbote, die EU beschließt heute Sanktionen. In der Nacht flogen wieder Brandsätze.

Die erste Nacht nach der Eskalation auf dem Kiewer Maidan verlief zwar ruhig, morgens entglitt den Streiparteien die Situation aber wieder: Abends hatten sich die gegnerischen Parteien noch auf eine vorläufige Waffenruhe geeinigt – eine brüchiges Konstrukt, das nicht einmal ganz über die Nachtstunden gehalten hat. Das Fernsehen zeigte am Donnerstag Bilder, in denen zwei Leichen in der Nähe des zentralen Maidan-Platzes zu sehen waren - die Körper waren mit Decken bedeckt.

Schwarzer Rauch stieg wieder über dem Maidan auf, Protestierende warfen auch Feuerwerkskörper und Brandsätze auf die Sicherheitskräfte - die feuerten wiederum Tränengas ab. Am frühen Vormittag sollen zudem wieder Schüsse gefallen sein, berichten ukrainische Medien. Die Behörden warfen den Regierungsgegnern vor, Scharfschützen gegen Polizisten einzusetzen. Den Demonstranten gelang es am Vormittag, die Polizei vom Unabhängigkeitsplatz abzudrängen.

Zuvor hatte der umstrittene ukrainische Präsident noch volle Härte gegen die Aufständischen verlangt – die Armee war drauf und dran, landesweit zum Anti-Terror-Einsatz auszurücken, der dem Ausnahmezustand bedrohlich nahe kommt. Kurz danach änderte Janukowitsch seine Meinung, wie schon so oft in den vergangenen Tagen: Er setzte kurzerhand den Armeechef ab, die Aktion war gestoppt.

Kalkuliertes Manöver

Was von außen aussieht wie eine Kalmierungs-Aktion, dürfte aber vielmehr kluge Taktik sein. Denn Beobachter sehen darin und im überraschend vereinbarten Waffenstillstand ein Manöver des Präsidenten, um die internationale Gemeinschaft zu beschwichtigen. Die EU-Außenminister wollen nämlich heute Nachmittag bei einem Sondertreffen in Brüssel finanzielle Sanktionen und Visa-Beschränkungen gegen die politische Führung der Ukraine beschließen. Europa dürfe nicht wegsehen, "wenn in unmittelbarer Nachbarschaft Menschen erschossen werden", argumentierte Österreichs Außenminister Sebastian Kurz.

Die USA haben hingegen bereits klargemacht, was sie vom Vorgehen Janukowitschs halten: 20 hochrangige Regierungsmitglieder, die die USA verantwortlich für die Gewalttaten der Nacht auf Mittwoch machen, dürften nicht mehr in die Vereinigten Staaten einreisen. Zudem warnte das Weiße Haus im Fall einer weiteren Eskalation mit Schritten der internationalen Gemeinschaft: "Es wird Konsequenzen haben, wenn Leute eine Linie überschreiten", sagte Präsident Obama.

Steinmeier in Kiew

Heute will Janukowitsch offenbar auch intern versuchen, die Wogen ein wenig zu glätten – im Gespräch mit Vitali Klitschko, im Westen bekanntestes Aushängeschild der Opposition. Auch Deutschlands Außenminister Frank-Walter Steinmeier soll vor Ort zwischen den Streitparteien vermitteln.

Damit dürfte ein weiterer Sturm des Maidan – der erste am Dienstagabend forderte mittlerweile 28 Tote und etwa 1000 Verletzte – vorerst aufgeschoben sein. Zufrieden geben wird sich die Opposition damit aber ganz sicher nicht: Die inhaftierte Oppositionsführerin Julia Timoschenko rief wieder zum Aufstand auf. "Wir müssen die Diktatur beseitigen, jetzt und für immer", ließ die Ex-Regierungschefin wissen.

Mit halbherzigen Aktionen, Trägheit und dann diplomatisch kommunizierter "Betroffenheit" als kleinstem gemeinsamen Nenner kommt man nicht weit. Das manifestiert sich jetzt in diesem Augenblick, in diesen Stunden auf den Straßen Kiews in Blut, Asche und Gewaltexzessen – es ist das Scheitern der außenpolitischen EU-Maschinerie in dieser Krise. Zu glauben, in diesem Konflikt den Vermittler mimen zu können, war von Anfang an eine Illusion. Die EU hat ihre Rolle verkannt – oder fatal lange die Konfrontation mit Moskau gescheut. Brüssel ist kein Vermittler, Brüssel ist eine Partei in diesem Konflikt, ob es will oder nicht – hatte doch alles wegen eines geplatzten Assoziierungsabkommens mit der EU begonnen. Und wenn man Partei ist, muss man sie auch ergreifen, oder man hält sich heraus. Sanktionen, wie sie jetzt kommen sollen, sind ein erster Schritt. Aber einer, der verdammt spät kommt.

Denn mit der Unfähigkeit der EU, zu einer Linie zu kommen, und ihren schwachbrüstigen diplomatischen Initiativen hat man letztlich die politische Opposition in der Ukraine ins Messer rennen lassen und sie so von der Protestbewegung entfremdet. Und das nicht zum ersten Mal. Auch nach der Orangen Revolution waren ukrainische Hoffnungen auf eine EU-Perspektive im Brüsseler Entscheidungsfindungsprozess zermahlen worden.

Und heute? Von Eskalationsstufe zu Eskalationsstufe ist diese Krise der EU über den Kopf gewachsen. Mit dem Resultat, dass das Land heute nur ein Haarbreit von einem offenen Bürgerkrieg oder der Spaltung entfernt steht. Wer auch immer die jüngste Eskalation begonnen hat: Prä­sident Janukowitsch hat zur Genüge bewiesen, dass er Kompromisse nur eingeht, wenn sie seinem Machterhalt dienlich sind. Vielleicht ist diese Einsicht jetzt bis Brüssel durchgesickert – besser spät als nie. Aber das, was in den vergangenen Wochen und Stunden in der Ukraine geschehen ist, kann man nicht ungeschehen machen.

Nur eine klare Linie und die Ausschöpfung aller diplomatischen Mittel könnten Brüssel jetzt noch gegenüber der ukrainischen Regierung, ebenso wie gegenüber der politischen Opposition, vielleicht wieder ein wenig Glaubwürdigkeit verschaffen.

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