„Wer lebt und wer stirbt, ist reiner Zufall“

Die Aufstände in den arabischen Ländern haben das Leben von Matthew Van Dyke völlig verändert. Denn den US-Filmemacher, der zuvor die Region von Afrika bis Nahost mit seiner Kawasaki und einer Kamera erkundet hatte, berührte der Kampf um Freiheit so sehr, dass er seine Kamera gegen eine Waffe tauschte. Im libyschen Bürgerkrieg kämpfte der 34-jährige Amerikaner an der Seite der Anti-Gaddafi-Kämpfer. Auch in Syrien zog er mit Rebellen durch die gefährlichsten Gebiete. „Freiheit und Demokratie sind universelle Werte“, sagt Van Dyke, „für die es sich zu kämpfen lohnt“. Diesmal „kämpft“ er wieder, mit der Kamera. Ziel ist es, dem Westen Bilder aus dem Alltag der Syrer zu zeigen. Sein 14-minütiger Dokumentarfilm „Not Anymore“ läuft auf Filmfestivals und etlichen TV-Stationen. Der KURIER sprach mit Van Dyke.
KURIER: Sie haben im libyschen Bürgerkrieg mit Rebellen gekämpft. Tun Sie das auch in Syrien?
Matthew Van Dyke: Ich habe in Syrien nicht gekämpft. Es gab Einheiten der Freien Syrischen Armee, die mich für den Kampf rekrutieren wollten. Sie hatten gehört, dass ich in der libyschen Revolution Militärdienst geleistet habe. Aber ich habe ein öffentliches Versprechen abgegeben, dass ich nicht kämpfen würde, während ich meinen Film drehe. Also habe ich deren Angebote abgelehnt. Aber ich habe einige Einheiten beraten, basierend auf meiner Kampferfahrung in Libyen.
Wie lange haben Sie gefilmt? Was ist das Ziel?
Ungefähr einen Monat. In Aleppo und im Umland. Ich habe mehr als 20.000 Dollar aus meiner eigenen Tasche für den Film ausgegeben; das Resultat: Jetzt bin ich verschuldet.
Aber warum haben Sie das gemacht? Was ist die Story hinter Ihrem Film „Not Anymore“?
Das Ziel ist zu zeigen, wer die syrischen Rebellen sind und warum sie gegen das Assad-Regime kämpfen. Der Film soll auch die Meinung der Welt über die Rebellen verbessern und die internationale Gemeinschaft ermutigen, die syrische Revolution zu unterstützen.
Was erzählen Ihnen die junge Leute in Syrien?
Sie wollen, dass Syrien ein freies Land wird, in dem es eine demokratische Regierung gibt, in dem sie über ihre eigene Zukunft und ihr eigenes Schicksal selbst entscheiden können.
Schildern Sie, was Sie sehen, wenn Sie in Syrien sind. Wie ist das „Leben“ dort? Gibt es einen Alltag, etwa in Aleppo?
An meinem ersten ganzen Tag in Aleppo sah ich ein schwer verletztes Baby, das ins Krankenhaus gebracht wurde. Danach war es hart, dem Drang zu widerstehen, die Kamera niederzulegen, eine Waffe in die Hand zu nehmen und an die Front zu gehen. Aber ich breche mein Wort nicht, also habe ich während dieser Reise nicht gekämpft. Manche Teile Aleppos sind fast vollständig zerstört. Dort sieht man nur Katzen und alte Männer. In anderen Teilen der Stadt geht das Leben weiter, fast, als ob es keinen Krieg gäbe. Flugzeuge beschießen und bombardieren die Stadt, zusätzlich zu der Bedrohung durch Artillerie und Scharfschützen. Wer lebt und wer stirbt, ist reiner Zufall.
Haben Sie keine Angst, wenn Sie in Syrien sind?
Das Assad-Regime hat im staatlichen Fernsehen berichtet, dass ich ein Terrorist sei. Sie haben Fotos und Videos von mir gezeigt, als ich in Libyen gekämpft habe. Einige Leute in Aleppo haben mich als diesen Terroristen aus dem TV identifiziert. Das hat das Risiko erhöht, entführt oder getötet zu werden.
Wie haben Sie die Kämpfe zwischen den Rebellengruppen erlebt? Haben Sie das kommen sehen? Was bedeutet das für den Konflikt?
Das ist ein wachsendes Problem. Sie sollten sich nicht gegenseitig bekämpfen, egal welche ihre Ideologie oder Zugehörigkeit ist. Das wird dazu führen, dass wir den Krieg verlieren. Jeder muss seine Waffe in die richtige Richtung halten – auf Assads Truppen. Die Differenzen untereinander kann man dann klären, wenn das Regime besiegt ist.
Was halten Sie von dem Deal, den Washington und Moskau auf den Weg gebracht haben? Die Resolution zur Zerstörung von Assads Chemiewaffen?
Syrien seiner C-Waffen zu entledigen, statt Assad mit Luftangriffen zu bestrafen, ist eine Alibiaktion und hilft den 20 Millionen Bürgern nicht. Die Obama-Administration hat den einfachsten Weg aus einem politischen Chaos gewählt, statt das Richtige zu tun: das Assad-Regime mit Luftschlägen zu lähmen und so der Freien Syrischen Armee die Chance zu geben, Syrien zu befreien. 100.000 Menschen wurden von herkömmlichen Waffen getötet, bevor im August Chemiewaffen verwendet wurden. Das Problem sind also nicht die chemischen Waffen. Das Problem ist das Regime.
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