Südkoreas liberaler Kandidat Lee vor Präsidentschaftswahl in Führung

Südkorea wählt am Dienstag einen neuen Staatspräsidenten. Rund eine Woche vor dem Urnengang liegt der sozialliberale Spitzenkandidat Lee Jae-myung klar in Führung. Laut einer am Dienstag veröffentlichten Meinungsumfrage kann Lee mit mehr als zehn Prozentpunkten Vorsprung vor seinem konservativen Hauptkonkurrenten Kim Moon-soo rechnen. Gewählt wird ein Nachfolger für Staatschef Yoon Suk-yeol, der wegen seiner höchst umstrittenen Verhängung des Kriegsrechts abgesetzt wurde.
Das neue Staatsoberhaupt steht vor viele Aufgaben. Es wird sich vor dem Hintergrund der jüngsten Staatskrise um den Ruf seines Landes kümmern müssen, das sich in den 1980er-Jahren von einer Diktatur in eine demokratische Erfolgsgeschichte verwandelt hat. Gleichzeitig muss der neue Präsident ein ins Stocken geratenes Wirtschaftswachstum ankurbeln, zugleich mit der unsicheren US-Handelspolitik zurechtkommen und sich mit dem atomar bewaffneten Nordkorea auseinandersetzen.
49 zu 35 Prozent in Umfrage
Der Kandidat der Demokratischen Partei (DP), Lee, plädiert dafür, die Wirtschaft durch steuerpolitische Maßnahmen zu stützen. Er will außerdem alle, die an Yoons Versuch, im Dezember das Kriegsrecht zu verhängen, beteiligt waren, vor Gericht stellen. In einer Umfrage von Gallup Korea, die von Samstag bis Sonntag im Auftrag der Zeitung "JoongAng Ilbo" durchgeführt wurde, erhielt er 49 Prozent der Stimmen gegenüber 35 Prozent für Kim von der Partei der Volksmacht. In einem hypothetischen Zweier-Rennen lag Lee von der DP mit 52 Prozent zu 42 Prozent vor Kim.
Kim hat seit Beginn des Wahlkampfs einen Rückstand von mehr als 20 Prozentpunkten auf Lee aufgeholt. Er konnte aber einen anderen konservativen Kandidaten - Lee Jun-seok von der Neuen Reformpartei - nicht davon überzeugen, seine Kandidatur aufzugeben und ihn zu unterstützen, um seine Chancen zu verbessern. Der drittplatzierte Lee Jun-seok kam laut der Umfrage vom Dienstag auf 11 Prozent.
Es handelte sich um eine der letzten großen Umfragen. Ab Mittwoch galt ein Moratorium, in dem die Veröffentlichung neuer Umfragen gesetzlich verboten ist. Weitere Umfragen kamen jedoch zu ähnlichen Ergebnissen. Auch bei Umfragen von den Instituten Next Research sowie Research & Research führte Lee deutlich vor Kim.
Krise nach Verhängung des Kriegsrechts
Yoon hatte Anfang Dezember wegen eines Streits mit der Opposition über das Staatsbudget das Kriegsrecht ausgerufen und Südkorea damit in eine tiefe politische Krise gestürzt. Das von der Opposition dominierte Parlament in Seoul stimmte daraufhin für die Absetzung Yoons. Das Verfassungsgericht bestätigte das Anfang April. Gegen Yoon läuft ein Verfahren wegen Aufruhrs, weil er versucht haben soll, Lee Jae-myung und andere, die während seiner Amtszeit wiederholt mit ihm aneinandergerieten, zu verhaften. Yoon rief zur Wahl von Kim auf.
Die viertgrößte Volkswirtschaft Asiens mit Großkonzernen wie Samsung oder Hyundai ist im ersten Quartal geschrumpft, da Exporte und Konsum ins Stocken geraten sind. Südkorea befindet sich in Handelsgesprächen mit den Vereinigten Staaten, mit denen es gegen Nordkorea eng verbündet ist, und bemüht sich um eine Befreiung von den Zöllen, die Präsident Donald Trump angekündigt hat.
Kim, der unter Yoon Arbeitsminister war, versucht, zentristische Wähler zu umwerben, indem er eine wirtschaftsfreundliche Politik einschließlich Deregulierung und Investitionsanreizen sowie eine harte Haltung gegenüber Nordkorea verspricht. Unterstützung bekommt Kim vom ehemaligen liberalen Premierminister Lee Nak-yon, der eine Minderheitsfraktion in der Demokratischen Partei vertritt. Er sagte unlängst, Lees Tendenz zum Missbrauch der Mehrheitsmacht müsse kontrolliert werden.
Dennoch wird Lee wahrscheinlich seinen komfortablen Vorsprung beibehalten, wenn es nicht zu einer größeren unerwarteten Wendung kommt, sagt Choi Jin, Direktor des Presidential Leadership Institute in Seoul. "Zum jetzigen Zeitpunkt scheint es fast unmöglich, dass (Lee) einen fatalen Fehler begeht oder dass (Kim) etwas schafft, das das Herz des ganzen Landes berührt", so der Analyst.
Kim erwägt Atomwaffen
In einer Fernsehdebatte sprachen die Kontrahenten unlängst über den Konflikt mit dem Nachbarn Nordkorea und die Sicherheit des Landes. Lee sagte, dass eine dreiseitige Sicherheitszusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten und Japan für die südkoreanische Diplomatie von zentraler Bedeutung sei. Und er betonte: "Ich glaube, es gibt keinen Grund, China oder Russland unnötig zu verärgern." Bereits zuvor hatte er sich für eine Wiederherstellung der Kommunikation zwischen Süd- und Nordkorea ausgesprochen. Er hatte erklärt, dass er im Falle seiner Wahl eine militärische Hotline in Betracht ziehe.
Kim sagte in der TV-Diskussion, dass er in Erwägung ziehen könnte, die Sicherheit Südkoreas mit Atomwaffen zu verstärken, wenn dies im Rahmen der Allianz zwischen Seoul und Washington möglich sei. Unter Yoon als Präsident hatte das stalinistische Nordkorea mit Machthaber Kim Jong-un an der Spitze wieder einen Kurs der zunehmenden Eskalation eingeschlagen.
Kommentare