19 Jahre Haft für Nawalny – doch die meisten Russen lässt das kalt

Der Ton der Übertragung war so schlecht, dass auch die Journalisten vor den Bildschirmen in Moskau das Urteil kaum verstanden. Die Öffentlichkeit war nämlich ausgeschlossen, als Putins bekanntester Kritiker, sein „Albtraum“, wie manche ihn nennen, in einem kleinen Raum in seiner Strafkolonie knapp 300 Kilometer östlich von Moskau verurteilt wurde. 19 Jahre bekam er wegen „Extremismus“ und „Nazi-Verherrlichung“ aufgebrummt – ob zusätzlich zu den elfeinhalb, die er dort absitzt, ist noch unklar.
Das Urteil ist ein Signal an alle Putin-Kritiker, es Nawalny nicht gleichzutun – nicht umsonst wurde dessen Organisation schon vor Langem liquidiert; wer seine Postings verbreitet, wandert selbst in Haft. Dass der Kreml versucht, das Urteil so klein wie möglich zu halten, ist die andere Botschaft: Seit Jahren nennt Putin Nawalny nie beim Namen – er will ihm keine Plattform bieten.
Fragliche Unterstützung
Wie groß das Interesse der Russen an Nawalny ist, ist aber ohnehin fraglich. Neun Prozent der Bevölkerung finden seine Arbeit laut dem unabhängigen Umfrageinstitut Lewada gut – allzu viel ist das nicht. Auch der Aktivist selbst verschätzte sich da schon einmal: Als er nach seiner Vergiftung aus dem Exil nach Russland zurückkam, erwartete ihn bekanntlich jene Haft, die er nun seit mehr als 900 Tagen absitzt. Dass er die tatsächlich hinter Gittern verbringen würde, damit soll er laut Experten aber gar nicht gerechnet haben. Vielmehr habe Nawalny einen Aufschrei der Bürger samt Prozessabsage erwartet, heißt es.
Nur: Gekommen ist all das nie. Gründe dafür gibt es viele; der offensichtlichste ist, dass Putins Behörden seit Jahren alles unternehmen, um Nawalny Prügel vor die Füße zu werfen. Bei der Präsidentschaftswahl 2018 wurde ihm die Kandidatur verboten, seither folgt ein dubioses Verfahren dem nächsten. Ein anderer Grund ist die zersplitterte Opposition: Für Nawalny, unbestritten das bekannteste Gesicht der Bewegung, gibt es von dort kaum Unterstützung, im Gegenteil. Mit einigen Mitstreitern liegt Nawalny offen im Clinch, etwa mit Sergej Wenediktow, Chef des liquidierten Radiosenders Echo Moskwy. Nawalny hatte öffentlich gemacht, dass der sich vom Moskauer Bürgermeister und Putin-Freund Sobjanin für halbseidene PR-Berichte hatte bezahlen lassen. Wenediktow veröffentlichte daraufhin einen Brief von Leonid Wolkow, Nawalnys rechter Hand, an die EU. Der hatte darin offiziell die Aufhebung der Sanktionen gegen Michail Friedman gefordert – einem Putin nahestehenden Oligarchen.
Beide Episoden nähren den Vorwurf, dass viele Oppositionelle ohnehin mit dem Kreml kollaborieren würden – und dass sie insgeheim aber auch dessen imperialistische Ziele teilen. Nawalny selbst konnte das auch nie ganz entkräften, was ihm vor allem in der Ukraine nachhängt. 2012 sagte er im TV, Russland und die Ukraine seien ja „eine Nation“, und die Krim-Annexion verurteilte er als Jurist zwar völkerrechtlich, aber sagte dennoch, sie sei immer schon Teil Russlands gewesen.
Auch, dass er zuletzt aus dem Gefängnis massiv gegen die Invasion kampagnisierte, hilft ihm in der Ukraine wenig. Verschlimmert hat er das zuletzt noch, indem er Igor Girkin, Kampfname Strelkow, offen unterstützte: Putin hatte den Kreml-Kritiker kürzlich hinter Gitter verfrachten lassen. Nur ist Strelkow kein Liberaler, sondern ein populärer Kriegshetzer – und war als FSB-Offizier selbst beim Donbass-Einmarsch 2014 dabei.
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