Selenskij sucht Nähe zu China
Tag 162 im Ukraine-Krieg:
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij könnte die Volksrepublik China bitten, ihren politischen und wirtschaftlichen Einfluss auf Russland geltend zu machen, um den Krieg zu beenden.
Die Zeitung South China Morning Post schreibt, Selenskij suche nach einer Gelegenheit, um mit dem chinesischen Staatschef Xi Jinping »direkt« zu sprechen. Der ukrainische Präsident wird mit den Worten zitiert: »Es ist ein sehr mächtiger Staat. China hat eine mächtige Wirtschaft … Es kann also Russland politisch und wirtschaftlich beeinflussen. Außerdem ist China ein ständiges Mitglied des Uno-Sicherheitsrats«.
China hat sich im Ukraine-Krieg auf die Seite Russlands geschlagen, aber nicht vollends. So kümmert sich die Volksrepublik wenig um beschlossene Sanktionen und kauft billige russische Rohstoffe und auch andere Waren. Im Mai hielt China Marineübungen mit Russland und dem Iran ab, Russland und die Volksrepublik flogen zudem zusammen militärische Langstreckenflüge.
Andererseits versucht China, sich nicht zu tief in den Krieg hineinziehen bzw. von der russischen Seite vereinnahmen zu lassen und führt Kooperationen mit den Russen dort weiter, wo sie dem Land selbst von Nutzen sind. Denn die Angst in China besteht, dass die USA - sie sind der weitaus bedeutendere Handelspartner als etwa Russland - eine zu enge Annäherung an Russland mit Sanktionen ahnden könnte.
Russland bereitet nach ukrainischen Angaben eine neue Offensive im Süden des Landes vor. Dazu gehöre der Aufbau einer Truppe, die einen Angriff auf Krywyj Rih - die Heimatstadt des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskij - vorbereite, teilt das Militärkommando der Südukraine mit.
Die von der Ukraine kontrollierte Stadt ist bekannt für ihre Stahlproduktion und liegt rund 50 Kilometer von der südlichen Frontlinie entfernt.
Russische Truppen versuchen auch, weiter in den Osten vorzudringen. Sie nehmen dabei die Verteidigungslinie Bachmut - Soledar - Siwersk ins Visier, um anschließend den Ballungsraum um die Großstädte Slowjansk und Kramatorsk angreifen zu können.
In dem Ballungsraum lebten vor dem Krieg über eine halbe Million Menschen. Allerdings versucht Kiew, die Menschen aus den Kriegsgebieten zu holen. Die Evakuierung wird auch heute, Donnerstag, weitergehen.
Im Osten und Süden der Nachbarstädte Bachmut und Soledar seien an acht Abschnitten russische Angriffe abgewehrt worden, teilte der ukrainische Generalstab mit. Auch bei der von ukrainischen Einheiten gehaltenen Industriestadt Awdijiwka habe es an fünf Abschnitten im Norden, Osten und Süden Angriffsversuche der russischen Truppen gegeben. Alle seien abgewehrt worden. Unabhängig sind die Angaben nicht zu überprüfen. Awdijiwka liegt in unmittelbarer Nähe von Donezk.
Entlang der gesamten Front seien in den Gebieten Charkiw, Donezk, Saporischschja, Cherson und Mykolajiw wieder ukrainische Positionen in Dutzenden Orten durch die russische Artillerie beschossen worden. Im südukrainischen Gebiet Cherson sei zudem ein weiterer russischer Bodenangriff gescheitert, heißt es im Lagebericht. Darüber hinaus ist von massiven russischen Luftangriffen die Rede.
Ukraine steigert Ernte trotz Krieg
Die Ukraine hat trotz des laufenden russischen Angriffskriegs ihre Ernteprognose für dieses Jahr um rund zehn Prozent angehoben. Erwartet werden nun 65 bis 67 Millionen Tonnen Getreide und Ölsaaten statt der anfänglichen 60 Millionen Tonnen, sagte Agrarminister Mykola Solskyj einer Regierungsmitteilung vom Mittwoch zufolge.
Laut Ministerpräsident Denys Schmyhal sind bereits jetzt zwölf Millionen Tonnen der neuen Ernte eingefahren.
Selenskij kritisiert globale Sicherheitsarchitektur
Nach fast einem halben Jahr Krieg im eigenen Land stellt Selenskij die globale Sicherheitsarchitektur insgesamt in Frage. Selenskij stellte den Ukrainekrieg in eine Reihe internationaler Konflikte und kritisierte die globale Sicherheitsarchitektur insgesamt als unzureichend. Derzeit gebe es Schlagzeilen über Konflikte auf dem Balkan, um Taiwan und den Kaukaus, die ein Faktor eine: „Die globale Sicherheitsarchitektur hat nicht funktioniert“, sagte der ukrainische Präsident am Mittwoch in seiner täglichen Videoansprache.
Einmal mehr warf Selenskij Russland vor, mit seinem Angriffskrieg gegen das Völkerrecht zu verstoßen. Das Problem sei, dass die Welt Russland diese Verstöße - sei es die Annexion der Krim, oder der Abschuss der Boeing über dem Donbass - lange habe durchgehen lassen. Der Krieg in der Ukraine zeige, wie fragil die Freiheit sei. Sie könne „nur durch kollektives Handeln geschützt werden, und damit dies dauerhaft funktioniert, bedarf es einer wirksamen globalen Sicherheitsarchitektur, die dafür sorgt, dass kein Staat jemals wieder Terror gegen einen anderen Staat einsetzen kann“.
Waffenlager zerstört
Russland hat nach eigenen Angaben ein ukrainisches Waffenlager mit einem Raketenangriff zerstört. In dem Depot in der westukrainischen Region Lwiw (Lemberg) seien von Polen gelieferte Waffen gelagert gewesen, teilt das Verteidigungsministerium in Moskau mit.
Gefangengenaustausch
Während eine Friedenslösung in der Ukraine nicht in Sicht ist, funktioniert unterdessen aus Moskaus Sicht zumindest der Austausch von Gefangenen. "Unter Beteiligung des Roten Kreuzes ist es gelungen, den Dialog mit Kiew über den Austausch von Gefangenen und von toten Soldaten zu organisieren. Bisher wurden 27 solcher Operationen durchgeführt", sagte der stellvertretende russische Verteidigungsminister Alexander Fomin am Mittwoch bei einem Briefing mit ausländischen Militärattachés der Agentur Interfax zufolge. Der größte einzelne Austausch fand Ende Juni statt, als von jeder Seite 144 Kriegsgefangene ausgetauscht wurden.
Die Verhandlungen über den Gefangenenaustausch sind nach dem Abbruch der Gespräche über eine Friedenslösung in der Ukraine einer der letzten diplomatischen Kanäle zwischen Moskau und Kiew. Es gab zuletzt mehrfach Vorschläge, diese Kontakte zur Neuaufnahme vollwertiger Friedensverhandlungen zu nutzen.
Fomin verwies darauf, dass über diesen Kanal auch die Evakuierung der Fabrik Asowstal in der Hafenstadt Mariupol vereinbart worden sei. Damals seien mehr als 3.000 Menschen, darunter Hunderte Zivilisten, aus dem Stahlwerk geholt worden. "Die Operationen trugen ausschließlich humanitären Charakter", sagte Fomin.
Kommentare