Pressestimmen zur EU-Wahl: "Manfred Weber hat kaum Chancen"

Pressestimmen zur EU-Wahl: "Manfred Weber hat kaum Chancen"
Die internationalen Tageszeitungen sehen das proeuropäische Lager gestärkt. Der "Tages-Anzeiger" räumt dem EVP-Spitzenkandidaten wenig Chancen auf den Kommissionspräsidenten ein.

Zahlreiche Tageszeitungen kommentieren am Montag die Europawahl.

Tages-Anzeiger (Zürich, Online-Ausgabe):

"Das proeuropäische Lager verteidigt seine Position, wenn auch das neue EU-Parlament deutlich fragmentierter sein wird. Die geschrumpften Konservativen und Sozialdemokraten brauchen die Grünen oder die Liberalen als Mehrheitsbeschaffer. Die Fragmentierung wird es schwieriger machen, in Zukunft Mehrheiten zu finden. Das wird sich schon in den nächsten Tagen zeigen, wenn es um das Schicksal der Spitzenkandidaten bei der Europawahl geht. (...)

Die Konservativen bleiben zwar trotz Verlusten Nummer eins. (EVP-Spitzenkandidat) Manfred Weber hat aber kaum Chancen, im neuen EU-Parlament eine Mehrheit zu bekommen und den Anspruch auch gegenüber den Staats- und Regierungschefs durchsetzen zu können."

Neue Zürcher Zeitung (Online-Ausgabe):

"Bei der Europawahl haben die proeuropäischen Kräfte am Sonntag den großen Angriff der Rechtsnationalen abgewehrt, doch dürfte sich das neu gewählte Europaparlament in der Legislaturperiode zwischen 2019 und 2024 wesentlich zersplitterter präsentieren als das bisherige. (...) Ein Treffen zwischen den Spitzenkandidaten am Montagabend sowie eine Sitzung der Fraktionschefs am Dienstag sollen nun einen Weg aus der verfahrenen Lage weisen, wobei das Europaparlament unter Druck steht, sich rasch auf einen gemeinsamen Kandidaten fürs Kommissions-Präsidium zu einigen. Denn bereits am Dienstagabend kommen in Brüssel die Staats- und Regierungschefs der 28 EU-Staaten zusammen, die eine Blockade im Parlament ausnützen und neue Kandidaten ins Spiel bringen könnten. Das Ringen droht also zum Machtkampf zwischen dem Parlament und den Mitgliedstaaten zu werden."

 

New York Times:

"Es ist davon auszugehen, dass die Populisten und Nationalisten mit mehr als einer Stimme im Parlament versuchen werden, bei Fragen wie der Beschränkung von Einwanderung oder Budget noch mehr Druck auszuüben. Wahrscheinlich werden sie versuchen, die Pläne der Pro-Europäer zu blockieren, und auf mehr Macht für die Staaten dringen als für die Bürokratie, die sie für elitär halten. Trotzdem sind die EU-gegnerischen Kräfte weiterhin verschieden und uneinig und könnten es schwer haben, ernsthaft Macht auszuüben. Die größten Auswirkungen werden wohl viel mehr genau dort zu spüren sein, wo es den Rechtsaußen- und Populisten-Führern am liebsten ist: in ihren Heimatländern, vor allem in Frankreich und Italien, wo sie damit drohen, das traditionelle Parteiensysteme weiter zu stören und Macht zu erringen. Seit Monaten haben sie diese Wahlen als Lackmustest ihrer Beliebtheit beworben."

Le Figaro (Paris):

"Für Marine Le Pen ist es ein symbolischer Sieg (...), der vor allem ihre erniedrigende Niederlage gegen Emmanuel Macron (bei der französischen Präsidentenwahl) vor zwei Jahren ausgleicht. Für den Staatschef ist das Wichtige aber woanders. Die vom ihm vorhergesagte, gewollte und organisierte politische Neuaufstellung hat einen (...) entscheidenden Erfolg verzeichnet. (...) Zwischen Macron und Marine Le Pen gibt es nichts mehr (...)."

La Croix (Paris):

"Dieses Ergebnis führt nicht zu einer institutionellen Krise in Frankreich. Bei der Europawahl 2014 lag die Liste der extremen Rechten bereits an der Spitze, ohne wirklich die Gesamtlage zu ändern. Die Ergebnisse sind jedoch ein ernsthafter Rückschlag für Emmanuel Macron. Der Staatschef, der einen jeglichen Kurswechsel ausgeschlossen hat, muss die geplanten Baustellen wie die Arbeitslosenversicherung und die Pensionen in einem neuen Licht erscheinen lassen."

Washington Post:

"Der größte Quell des Zuspruchs für Rechtsaußen schien Italien zu sein, wo die Lega-Partei des Innenministers Matteo Salvini auf den ersten Platz sprang, und das nach einem Jahr, in dem er mit der Abschiebung von Migranten und einer Schwächung der EU im ganzen Land eine scharfe Wahlkampagne geführt hatte. Aber sein Plan für einen europaweiten Durchmarsch europaskeptischer Verbündeter muss nun etwas zurückgefahren werden. Viele seiner potenziellen Partner heimsten nur kleine Wahlgewinne ein, wenn überhaupt. Es wurde nie erwartet, dass sie eine Mehrheit im Parlament bekommen könnten, jetzt ist es unwahrscheinlich, dass sie stark genug sind, um eine blockierende Minderheit zu sein.

Stattdessen könnten die Grünen und andere Pro-Umweltgruppen und sozial-liberale Parteien die Überraschung der Wahl sein, nachdem sie in Frankreich, Deutschland, Finnland und anderen Ländern an zweite oder dritte Stelle rutschten. Das Ergebnis ist ein Europäisches Parlament, in dem die Parteien der Mitte erstmals daran scheiterten, eine Mehrheit zusammenzubekommen, und sich nun die Unterstützung von Abgeordneten holen müssen, die eine weniger orthodoxe Sicht davon haben, wie Europa zu steuern ist."

CNN (Atlanta):

"Europa hat den Großteil eines Jahrzehnts damit verbracht, mit aufstrebenden Populisten von der radikalen Linken und der radikalen Rechten zurechtzukommen. Es hat der EVP und den Sozialdemokraten Kopfschmerzen bereitet, sich den Populisten mit schwankendem Erfolg entgegenzustellen. Dieses Kopfweh erreichten am Sonntag seinen Höhepunkt, als die große Koalition aus EVP und S&D dahingerafft wurde. Europas Wähler haben gesprochen, aber nicht mit einheitlicher Stimme. Die Wahlbeteiligung von EU-weit 50,95 Prozent war die höchste seit 1994. Aber die einzige klare Botschaft für Brüssel ist, dass Europa sich reformieren muss, wenn es überleben will. Wie genau jene Reform aussieht, ist die nächste große anstehende Schlacht.

Das Parlament funktioniert durch Abgeordnete aus verschiedenen Ländern, die sich zu verbündeten Gruppen zusammentun. In den kommenden Wochen wird dieses Machtgeschacher, in dem die Abgeordneten beschließen, mit wem sie zusammensitzen, entscheidend für die Zukunft des Kontinents. Es ist kein Geheimnis, dass die europäische Politik sehr zersplittert ist. Diese Wahlergebnisse - und die Herausforderung, die sie für irgendeinen Konsens mitbringen - gibt die extremen Verschiedenheiten nicht nur unter den 28 Mitgliedsstaaten, sondern auch innerhalb der Staaten präzise wieder.

The Guardian:

"Es ergibt Sinn, dass die zwei großen Gruppen Sitze verloren haben - mehr als 90 Abgeordnete nach vorläufigen Zählungen - und, erstmals in der Geschichte, ihre gemeinsame Mehrheit. (...) Das Ergebnis wird ein Parlament sein, das so fragmentiert ist wie nie zuvor. Und das "Weniger Europa"-Lager aus Nationalisten, Souveränisten und Euroskeptikern, selbst gespalten durch große Unterschiede bei Ideologie und Politik, spiegelt diese Zerrissenheit wider.

Das bedeutet, dass die Art von direkten Mehrheiten, die früher im Parlament erreicht wurden, um die EU-Gesetzgebung voranzubringen, unwahrscheinlicher sind. Spontane, gruppenübergreifende Koalitionen werden üblicher werden, was wahrscheinlich Entscheidungsfindungen in heiklen Fragen erschweren wird, etwa beim nächsten EU-Haushaltsbeschluss, Grenzkontrollen oder Klimaschutzmaßnahmen. (...) Eine kompliziertere, spontane, aber immer noch irgendwie bequeme proeuropäische Mainstream-Mehrheit ist natürlich weniger aufregend als wenn eine Populismus-Flut über die Grundfeste der EU hinweggeschwappt wäre. Aber es sieht so aus, als ob dies das Ergebnis der Wahlen ist."

Financial Times (London):

"Die Wahlergebnisse in den 28 EU-Mitgliedsstaaten werden einen entscheidenden Einfluss auf die politische Ausrichtung in Brüssel für die kommenden fünf Jahre haben. Sie legen die Haltung des Parlaments zu so sensiblen Themen wie grünen Steuern und internationalen Handelsabkommen fest. Und sie wiegen auch schwer beim Wettlauf um die EU-Top-Jobs. Wenn sich die vorläufigen Ergebnisse bestätigen, würde dies das Ende der Mitte-Links- und Mitte-Rechts-Mehrheit bedeuten, die seit 1979 im Parlament herrscht und einem gespalteneren Pro-EU-Block weichen, der bis zu vier Parteien umfassen wird."

De Morgen (Brüssel):

"Die Euroskeptiker werden immer stärker, aber der große Handstreich bleibt aus. Hier und da wurde erwartet, dass eine Welle von populistischen und euroskeptischen Parteien das Europäische Parlament überfluten würde. Mit Matteo Salvini und Marine Le Pen haben einige Anführer ihre nationalen Wahlen gewonnen, aber das scheint nicht auszureichen, um das Kräfteverhältnis im Europäischen Parlament ordentlich durcheinanderzubringen."

NRC Handelsblad (Amsterdam):

"Die politischen Verhältnisse im Europaparlament sind den vorläufigen Wahlergebnissen zufolge stärker zersplittert und daher komplizierter geworden. Doch eine Entwicklung wurde in Brüssel am Sonntagabend weithin begrüßt: die europäische Demokratie hat Auftrieb bekommen (...) Die höhere Wahlbeteiligung sehen verschiedene Politiker als Zeichen dafür, dass die Wähler europäische Politik wichtiger als bisher finden. In den kommenden Jahren wird das Europäische Parlament eine entscheidende Stimme beim europäischen Herangehen an Themen wie Klimawandel, Migration, Arbeitsmarkt, Rechtsstaat und Sicherheit haben. Umfragen in EU-Staaten zufolge finden Wähler diese Themen besonders wichtig."

de Volkskrant (Amsterdam):

"Ein Schlag gegen das proeuropäische Lager ist die Niederlage des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Er präsentierte sich als Fahnenträger im Kampf gegen Nationalismus und Populismus. Macron gegen (Matteo) Salvini (und seine rechte Lega in Italien), aber er wird von (der Rechtspopulistin Marine) Le Pen besiegt. Die vom französischen Präsidenten so stark propagierte "Wiedergeburt" Europas scheint in seinem eigenen Land die schwierigste Geburt zu werden. Das, was von Macron als nationalistisches Gespenst betrachtet wird, ist noch lange nicht besiegt. Schon allein deshalb, weil Gegner Salvini der große Gewinner in Italien ist, einem anderen großen EU-Land."

La Repubblica (Rom):

"Von den Souveränisten zum Referendum gegen die EU aufgerufen, haben die Europäer - außer in Italien und in Frankreich - die Geister zurückgewiesen, die sich bedrohlich auf dem Kontinent ausgebreitet haben. Ein Trend zur Wahlabstinenz hat sich umgekehrt. Mehr als die Hälfte der 430 Millionen Wahlberechtigten ist an die Urnen gegangen. Viele Junge waren darunter. Wenn Europa heute gerettet ist, ist das auch und vor allem deren Verdienst."
 

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