Afghanen trotzen der Gewalt mit ihrer Stimme
Regen, eiskaltes Wetter, teilweise stundenlanger Anmarsch zu einem Wahllokal und nicht zuletzt die Todesdrohungen der radikal-islamischen Taliban – sieben der 12 Millionen afghanischen Wahlberechtigten ließen sich von diesen Hindernissen gestern nicht abschrecken (mehr dazu...). Der Andrang der Wähler für die Kür ihres neuen Präsidenten war gewaltig. Stundenlang stellten sich Männer und Frauen, stets streng voneinander getrennt, geduldig in langen Schlagen vor den Urnen an.
An mehreren Wahllokalen kam es zu Anschlägen. Mindestens zwei Personen wurden bis zum frühen Nachmittag erschossen oder von Bomben getötet.
Bleibt heuer anders als bei den Wahlen 2009 Wahlbetrug im großen Stil aus, könnte 2014 das Jahr werden, in dem Afghanistan der erste friedliche und demokratische Machtwechsel in der Geschichte des Landes gelingt. Nach zwei Amtszeiten darf Präsident Hamid Karzai nicht noch einmal kandidieren. Von den acht Kandidaten, die auf den Wahlzetteln stehen, haben nur drei echte Chancen auf die Nachfolge Karzais: der ehemalige Minister und langjährige Gegenspieler Karzais, Abdullah Abdullah; der Wunschfavorit Karzais, der ehemalige Außenminister Zalmai Rassoul und der ehemalige Weltbank-Mitarbeiter Ashraf Ghani.
Abkommen mit USA
Alle drei versprachen im Wahlkampf Wachstum, eine bessere Förderung der Frauenrechte und dass sie – im Gegensatz zu Präsident Karzai – das Sicherheitsabkommen mit den USA unterzeichnen werden. Dieses soll Afghanistan den Verbleib einer kleinen, bis maximal 12.000 Mann starken NATO-Truppe im Land sichern.
Denn an und für sich wäre vorgesehen, dass mit Ende 2014 alle NATO-Soldaten aus dem Land am Hindukusch abgezogen sind. Bei der Mehrheit der Afghanen herrscht große Angst, dass dann wieder die extrem gewaltbereiten Taliban die Macht an sich reißen.
Sie wollte die Gräuel von Krieg und Terror in Bildern festhalten, nun wurde sie selbst ermordet: Einen Tag vor der Präsidentenwahl in Afghanistan ist die preisgekrönte deutsche Foto-Reporterin Anja Niedringhaus in der östlichen Unruheprovinz Khost von einem Polizisten erschossen worden.
Die US-Nachrichtenagentur Associated Press (AP) bestätigte am Freitag den Tod ihrer langjährigen Mitarbeiterin. Die mit Niedringhaus reisende kanadische AP-Reporterin Kathy Gannon wurde demnach bei dem gezielten Beschuss verwundet.
Rache für Nato-Angriffe
Gannons Zustand sei stabil, teilte AP weiter mit. Ein anwesender freier Mitarbeiter von AP Television habe berichtet, beide Reporterinnen hätten in ihrem Wagen in einem Wahlkonvoi gesessen und auf die Abfahrt gewartet. Ein Polizist sei auf das Auto zugekommen und habe mit den Worten "Allahu Akbar" ("Gott ist groß") das Feuer auf die Journalistinnen auf dem Rücksitz eröffnet. Der Kommandant einer Polizeieinheit habe sich dann widerstandslos festnehmen lassen. Als Motiv habe er Rache für Nato-Luftangriffe auf sein Dorf in Afghanistan angegeben, sagte ein Sprecher der Polizei in der afghanischen Unruheprovinz Khost am Samstag.
Bilder von Anja Niedringhaus
Pulitzer-Preisträgerin
Niedringhaus (48) und Gannon (60) hatten jahrelange Erfahrung in der Region und anderen Konfliktgebieten. 2005 gewann Niedringhaus gemeinsam mit einem Team von AP-Fotografen den Pulitzer-Preis für ihre Berichterstattung im Irak. Auch Gannon bekam für ihre Arbeit zahlreiche Preise.
Die Taliban - die Angriffe auf die Wahlen angekündigt hatten - wiesen jede Verantwortung für den Mord zurück. Auch die deutsche Regierung schaltete sich in den Fall ein. Die deutsche Botschaft in Kabul sei "mit Nachdruck um Aufklärung bemüht", sagte eine Sprecherin des Auswärtigen Amtes in Berlin.
Die beiden Reporterinnen waren zur Berichterstattung über die afghanische Präsidentenwahl an diesem Samstag nach Khost (Chost) gereist. Der von afghanischer Armee und Polizei gesicherte Konvoi, in dem sie unterwegs waren, lieferte laut AP Wahlzettel an Wahllokale aus.
Präsident Karzai kondolierte
Der afghanische Präsident Hamid Karzai kondolierte der Familie von Niedringhaus. Die Vereinten Nationen verurteilten den "Terrorangriff auf Zivilisten" scharf. Der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck zeigte sich ebenfalls betroffen. "Mit dem Tod von Anja Niedringhaus hat die Welt eine bedeutende 'Augen-Zeugin' verloren", sagte Gauck laut im Voraus verbreitetem Text am Freitagabend bei der 50. Verleihung des Grimme-Preises in Marl. Journalisten in Kriegs- und Krisenregionen berichteten von Not, Elend und Gewalt. "Ohne ihre Arbeit, ihren Mut und ihr Engagement wäre unser Bild von der Welt unvollständig."
Der Sprecher von Kanzlerin Angela Merkel, Steffen Seibert, erklärte: "Die Nachricht vom Tod der wunderbaren Fotografin Anja Niedringhaus ist erschütternd. Die Bundesregierung trauert mit ihrer Familie."
Der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) sowie die Organisation Reporter ohne Grenzen (ROG) reagierten ebenfalls bestürzt. ROG-Geschäftsführer Christian Mihr forderte für Reporter Schutz von der afghanischen Regierung. DJV-Chef Michael Konken erklärte: "Wer Journalisten tötet, löscht Leben aus und versetzt der Pressefreiheit einen schweren Schlag. Das darf nicht ungesühnt bleiben."
"Tod erfüllt uns mit Entsetzen"
Auch bei der Deutschen Presse-Agentur dpa wurde Anja Niedringhaus als Kollegin geschätzt. "Wir haben sie als überaus engagierte Journalistin erlebt, ihr Tod erfüllt uns mit Entsetzen", hieß es in einer Stellungnahme.
Im vergangenen Monat war ein schwedischer Reporter in der Hauptstadt Kabul auf offener Straße erschossen worden. Kurz danach war unter den Opfern eines Taliban-Angriffs auf das Serena-Hotel in Kabul ein afghanischer Reporter der französischen Nachrichtenagentur AFP, auch ein Großteil seiner Familie wurde getötet. Die Sicherheitslage in Afghanistan vor der Wahl ist extrem angespannt.
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