Exit nach Brexit-Votum: "Zündler schleichen sich davon"

"Warum sind Sie überhaupt noch da?", hatte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker UKIP-Chef Nigel Farage vergangene Woche im Europäischen Parlament in Brüssel entgegengerufen.
Auf den ersten Blick möchte man meinen, der Angesprochene habe sich dies zu Herzen genommen. Am Montag verkündete er bei einer Pressekonferenz in London seinen Rücktritt als Parteichef. Er hatte das allerdings schon zwei Mal zuvor getan: Erst 2009, dann 2015, als es ihm nicht gelungen war, bei den Unterhauswahlen den angepeilten Parlamentssitz zu erringen. Beide Male war Farage wieder zurückgekehrt, diesmal soll der Schritt endgültig sein: "Während der Referendumskampagne habe ich gesagt, ,Ich will mein Land zurück‘, und was ich jetzt sage, ist: ,Ich will mein Leben zurück.‘"

"Wie ein Falke"
Sein Ziel sei immer der Austritt Großbritanniens aus der EU gewesen: "Ich habe meinen Teil dafür getan und kann unmöglich mehr erreichen." Er werde aber nun den Verhandlungsprozess in Brüssel "wie ein Falke beobachten und vielleicht ab und zu im Europäischen Parlament einen Kommentar abgeben", meinte Farage, sicher nicht zur Freude Junckers: "Ich habe auch große Lust, den Unabhängigkeitsbewegungen auszuhelfen, die in anderen Teilen Europas entstanden sind, denn in einem bin ich mir sicher: Sie haben nicht das letzte Land gesehen, das die EU verlassen will."
Bisher hatte der in den britischen Medien dauerpräsente Populist seinen Protest in Brüssel vor allem durch hoch bezahlte Abwesenheit ausgedrückt. In Sachen Teilnahme an Plenarsitzungen und Abstimmungen liegt er im Vergleich mit anderen Europa-Abgeordneten auf dem drittletzten 747. Platz.
"Wahrheiten aufzählen"

Gleichzeitig ließen aber die derzeit führende Kandidatin auf den konservativen Parteivorsitz Theresa May und ihr Unterstützer Außenminister Philip Hammond wissen, dass genau diese Frage sehr wohl bei den kommenden Verhandlungen mit der EU als britischer Trumpf zum Einsatz kommen werde.
Am Samstag hatten 50.000 Londoner an einem "March For Europe" in Solidarität mit EU-Bürgern in Großbritannien teilgenommen. Laut der Metropolitan Police ist die Zahl der fremdenfeindlichen Gewalttaten seit dem Brexit-Referendum auf das Fünffache des sonstigen Durchschnitts angestiegen.
Die Londoner Anwaltsfirma Mishcon de Reya hat indes rechtliche Schritte angekündigt, falls ein britischer Premier den Artikel 50 zum Verlassen der EU ohne Zustimmung des britischen Parlaments auslösen sollte. Nachdem im Unterhaus eine große Mehrheit für den Verbleib in der EU besteht, wird Großbritannien diese letzte Hürde zum Brexit wohl nur mit großem Holpern nehmen.
Doch die wirtschaftlichen Konsequenzen sind bereits jetzt zu spüren: Ausländische Investitionen sind rapide abgefallen, weshalb Schatzkanzler George Osborne als Anreiz nun eine Senkung der Körperschaftssteuer auf ein Rekordtief von "unter 15 Prozent" ankündigt (siehe unten). Sein altes Ziel, bis zum Jahr 2020 ein ausgeglichenes Budget zu erreichen, hat er bereits aufgegeben.
Oscar-Gewinner Christoph Waltz hat seine deutliche Ablehnung des Brexit nochmals untermauert. Zum Rücktritt von Nigel Farage sagte der österreichische Wahllondoner dem TV-Sender Sky News: "Nun, natürlich würde die Oberratte das sinkende Schiff verlassen. Das ist unvermeidlich."
Mit den Verantwortlichen der "Leave"-Kampagne geht der Hollywoodstar hart ins Gericht: "Sie haben versucht, es als einen heldenhaften Abgang darzustellen, aber es ist das Eingeständnis eines Debakels." Sie verließen das Chaos und andere müssten aufräumen, während sie selbst sich in "irgendein anderes gewinnbringendes Geschäft" zurückzögen. "Das zeigt, wie verachtenswert diese Leute sind, da sie nicht einmal einstehen für etwas, das sie angerichtet haben." Waltz gab in dem Interview weiter zu, "etwas zu emotional" zu reagieren, weil er die "abgrundtiefe Dummheit" nicht begreifen könne.
(APA/dpa)
Die Brexit-Entscheidung versetzte dem Wirtschaftsstandort Großbritannien einen heftigen Schlag. „Was wir jetzt sehen, erinnert ein bisschen an die Aasgeier: Alle EU-Staaten, natürlich auch Österreich, reißen sich um die Europazentralen der großen Konzerne“, sagt Sabine Kirchmayr-Schliesselberger, Vorstand des Instituts für Finanzrecht an der Universität Wien, im Gespräch mit dem KURIER. „Da ist es logisch, dass London zumindest die Körperschaftsteuer herunterfahren will, um ein paar Punkte im Wettbewerb gutzumachen.“
Finanzminister George Osborne hat am Montag angekündigt, die Körperschaftsteuer (KöSt) von 20 auf unter 15 Prozent zu senken. Seit 2010 hat er den Satz bereits von 28 auf 20 gekürzt. Großbritannien solle die geringste Unternehmenssteuer der großen Volkswirtschaften bekommen, sagte Osborne der Financial Times. Es gelte, „das Beste aus dem Blatt zu machen, das uns ausgeteilt wurde“. Sein Fünf-Punkte-Programm zur Unterstützung der Wirtschaft beinhalte zudem Anstrengungen, Investitionen aus China anzulocken, die Unterstützung von Bankkrediten, eine Garantie der fiskalen Glaubwürdigkeit des Landes sowie Investitionen in die Industrieregionen Nordenglands.
„Die Körperschaftsteuer ist für Unternehmen immer ein gewichtiger Faktor im Steuerwettbewerb“, erklärt Kirchmayr-Schliesselberger. Bei der Standort-Entscheidung spielten aber viele Faktoren eine Rolle. „Die Briten hoffen jetzt vor allem auf ein gutes Verhandlungsergebnis mit der EU.“ Wobei die Steuerexpertin auch mit der Abwanderung von Finanzzentralen aus London rechnet: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Finanzzentrale für den europäischen Markt in einem Nicht-EU-Land beheimatet sein kann.“
Das Rennen um den Finanzsektor laufe vor allem zwischen Frankfurt, Paris und Amsterdam. Auch Irlands Hauptstadt Dublin kann – gerade für den Finanzsektor – interessant sein.
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