Juncker: Flüchtlinge können nicht Wohnort wählen

Jean Claude Juncker
An Schengen hält Kommissionschef fest. Dublin-System soll reformiert werden.

Jean-Claude Juncker versuchte in seiner ersten Pressekonferenz im neuen Jahr Optimismus zu versprühen. Heraus kam eher ein pragmatischer Ansatz. Angesichts der Liste offener Probleme gebe es weiterhin "Klüfte innerhalb der EU", die nach wie vor zu groß seien, sagte der EU-Kommissionspräsident, diese Liste werde auch 2016 länger. Er habe zwar darüber „keine großen Illusionen“, aber „Europa kann sich erholen“.

Beim Thema Reisefreiheit hat der Kommissionschef eine strikte Haltung: Das System Schengen müssen auch angesichts der Flüchtlingskrise weiterleben. Weniger Schengen bedeute weniger Binnenmarkt. Und das wiederum führe zu höherer Arbeitslosigkeit. "Wer Schengen killt, wird den europäischen Binnenmarkt zu Grabe tragen und eine Arbeitslosigkeit schaffen, die nicht mehr zu kontrollieren ist", so Juncker. Und ohne Reisefreiheit mache auch der Euro keinen Sinn mehr. Er werde "jedenfalls nicht aufgeben, die Verteilung von 160.000 Flüchtlingen in der EU" umzusetzen.

Die Binnen-Grenzkontrollen in Europa haben Laut Juncker bereits einen Kostenpunkt von drei Milliarden Euro erreicht. Sollte Schengen scheitern, wäre der wirtschaftliche Preis und die Beschädigung der europäischen Wachstumsperspektive enorm. "Der europäische Binnenmarkt wird an seinen Grenzen scheitern, wenn er wieder an seine Grenzen stößt."

Juncker richtete auch "ein offenes Wort" an die Flüchtlinge. "Es kann nicht so bleiben, dass diejenigen, die nach Europa kommen, in selbstherrlicher Selbstbestimmung festlegen, wo sie dann leben möchten. Das geht absolut nicht", sagte Juncker am Freitag in Brüssel. "Nicht die Flüchtlinge sind zuständig für die Aufteilung von Flüchtlingen, es sind die Mitgliedstaaten, die zuständig sind. Kein Flüchtling hat das angeborene Recht, sich einer lokalen Zuweisung zu verweigern. Und dies muss deutlich gemacht werden", sagte Juncker. Der EU-Kommissionschef bekräftigte, dass die EU-Behörde im Frühjahr ein neues Dublin-System vorschlagen werde, "weil wir es vorschlagen müssen, weil das jetzige erkennbar nicht in allen Aspekten funktioniert". Auch im neuen Dublin-System werde es wieder auf die Lastenteilung ankommen.

"Bin es leid"

"Ich bin es langsam leid, dass immer wieder die europäische Kommission dafür kritisiert werden, dass nicht genug getan worden wäre. Die Kommission hat alles, was möglich war, in einem schwierigen Umfeld gemacht. Aber einige EU-Staaten tun sich schwer, das umzusetzen, was sie selbst auch als Gesetzgeber im Rat beschlossen haben". Der Kommissionspräsident warnte davor, dass "wir einer enormen Glaubwürdigkeitskrise zusteuern, wenn es nicht gelingt, im Lauf von 2016 das zu tun, was beschlossen wurde. Es kann nicht sein, dass der Vorschlag der Kommission vom Rat übernommen wird, vom EU-Parlament unterstützt wird, was die Verteilung von 160.000 Flüchtlingen in Europa betrifft, aber diese Entscheidung nicht umgesetzt wird".

Er habe sich zuletzt mit dem jordanischen König getroffen und musste dabei erklären, wieso der reichste Kontinent der Erde die Flüchtlingsströme nicht bewältigen kann. "Da erröten sie nicht nur leicht. Wenn unsere Gesprächspartner darauf verweisen, dass die Probleme in ihrem Land viel gravierender sind. Wenn wir in Europa so viele Flüchtlinge aufnehmen müssten wie Jordanien und Libanon, müssten wir 100 Millionen Flüchtlinge in Europa aufnehmen. Insofern sollten wir uns etwas bescheidener äußern, wenn wir anderen in der Welt Lektionen erteilen, was good governance oder den Umgang mit Menschenrechte betrifft oder wie man Menschen in Not behandelt", so Juncker.

Anleihen an Vordenkern

Die Probleme von heute seien „eher klein gegenüber denen unserer Eltern und Großeltern“, betonte Juncker. Die Krisen von 2015 hätten sich von der Sorge um ein Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone über die Lage der Ukraine bis zur anhaltenden Flüchtlingskrise gespannt. „Und immer neue Probleme gesellen sich dazu. Ich denke nur an die Frage Großbritannien (das Referendum über einen Austritt der Briten aus der EU, Anm.).

Die „Krisen werden uns begleiten“. Aber: „Wir sind noch nicht am Anfang unseres Endes. Ich werde alles dafür tun, dass es dazu nicht kommt“, betonte Juncker. Als Vorbild für die Bewältigung der Krisen griff der Kommissionspräsident in die Vergangenheit und nannte „Kohl und Mitterrand“ als Beispiel. „Was die geleistet haben, sollte uns angesichts der Probleme heute inspirieren“.
Lob gab es vom Kommissionspräsidenten für das EU-Parlament und dessen Präsidenten Martin Schulz. Juncker attestierte Schulz einen „kühlen gesunden Menschenverstand“. Die erstmalige Wahl eines Kommissionspräsidenten sei ein gelungenes Experiment gewesen. „Wenn die Neuerung in demokratischer Hinsicht am Ende sich als Fehlschlag erweisen sollte, dann wird es 2019 keine solche Wahl mehr geben. Dann gibt es keinen Spitzenkandidaten mehr, und das wäre bedauerlich für die Demokratie“.

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