Israel 30 Jahre nach Rabins Ermordung: "Es war unsere größte Tragödie"

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Die Ermordung Yitzhak Rabins am 4. November 1995 erschütterte Israel bis ins Mark. In Tel Aviv erinnern nun Zehntausende an den Premier, der an den Frieden glaubte – und dafür mit dem Leben bezahlte.

Von Markus Ponweiser aus Tel Aviv

In der Nähe des Platzes, der heute den Namen Yitzhak Rabins trägt, wehen über den Köpfen der Menschen blau-weiße Fahnen. Mehr als 100.000 Israelis sind gekommen, um an den Premierminister zu erinnern, der vor dreißig Jahren den Mut hatte, Frieden zu versprechen. „Rabin hatte Recht – Ja zum Frieden“ steht auf vielen Schildern, eine Antwort auf den Hass, der ihn einst das Leben kostete. 

30th anniversary of assassination of Israeli PM Rabin in Rabin Square, Tel Aviv

Rund 100.000 Israelis gedachten am Wochenende in Tel Aviv ihrem ermordeten Ex-Premier Yitzhak Rabin.

Die heutige Zeit erinnert an damals

Eyal, 52, Softwareentwickler aus Tel Aviv, war 22, als er in jener Nacht vom Mord hörte. „Es war, als wäre etwas im demokratischen System zerbrochen“, sagt er. Damals lag Hoffnung in der Luft – nach dem Friedensvertrag mit Jordanien, nach den ersten Schritten des Friedensprozesses von Oslo. 

„Als ich ein Kind war, erzählten mir meine Großeltern und Eltern, dass wir vielleicht zur letzten Generation gehören, die noch zur Armee muss“, erinnert sich Eyal. „Heute dienen meine Kinder, sie sind 17, 20 und 22 Jahre alt, in einer der schwierigsten Phasen, die dieses Land je erlebt hat.“ 

Die Zeiten von heute erinnern ihn an damals – die Polarisierung, den Hass. „Viele fürchten, dass so etwas wieder passieren könnte“, sagt Eyal. „Gerade deshalb ist es wichtig, hier zu sein und zu zeigen, dass wir gegen politische Gewalt und für ein demokratisches Israel stehen.“

Rabin wurde von einem radikalen israelischen Siedler ermordet

Für Yossi Beilin, einen langjährigen Weggefährten Rabins und Mitarchitekten des Oslo-Abkommens – dem ersten direkten diplomatischen Übereinkommen zwischen Israel und den Palästinensern –bleibt die Ermordung „die größte Tragödie der israelischen Geschichte“. Rabin, sagt er, habe im Wahlkampf 1992 versprochen, den Friedensprozess mit den Palästinensern und arabischen Nachbarn einzuleiten. „Ich und einige andere halfen ihm, über geheime Kanäle zur PLO dieses Versprechen einzulösen.“

Der Mord beendete nicht nur ein politisches Projekt, sondern veränderte Israels Selbstbild. Der Täter, Yigal Amir, war ein radikaler Siedler aus dem Westjordanland und überzeugt, im Namen des Glaubens zu handeln. Das führte vielen im Land vor Augen, dass der Terror kein rein palästinensisches Phänomen ist. „Mit einem Schlag wurde uns bewusst, dass wir verwundbarer sind, als wir bis dahin gedacht haben“, sagt Beilin.

Netanjahu und Ben-Gvir protestierten einst gegen Rabin

Rabin war kein Träumer, sondern ein Pragmatiker. Er hatte im Unabhängigkeitskrieg 1948 gekämpft, diente als General im Sechstagekrieg und später als Stabschef der Armee. Für ihn blieb militärische Stärke – trotz seines Bekenntnisses zur Zweistaatenlösung – die Voraussetzung für einen dauerhaften Frieden.

Doch die Bereitschaft, den Feind als Verhandlungspartner anzuerkennen, machte ihn angreifbar. Rechte Demonstrationen zeigten Rabin mit SS-Uniform oder arabischem Kopftuch. Der damalige Oppositionsführer Benjamin Netanjahu trat auf denselben Protesten auf und schwieg, wenn Grenzen überschritten wurden. 

Einer der Aktivisten, Itamar Ben-Gvir, riss kurz vor dem Attentat das Cadillac-Logo von Rabins Wagen und hielt es in die Kamera: „Wir sind an sein Auto gelangt, wir werden auch ihn kriegen.“ Derselbe Ben-Gvir ist heute Israels Minister für nationale Sicherheit.

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Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir demonstrierten einst gegen Yitzhak Rabin.

Dass kein Regierungsvertreter zur Gedenkfeier eingeladen war, überrascht niemanden. Yair Golan, Vorsitzender der neu gegründeten Partei der Demokraten, zieht Parallelen zu heute: „Die Schüsse von damals hallen nach, wenn Patrioten heute als Verräter beschimpft werden, wenn die Polizei gegen Demonstranten vorgeht, die ihre Bürgerrechte ausüben, oder das Rechtssystem mit Füßen getreten wird.“ 

Am Ende des Abends erklingt das „Shir HaShalom“, das Lied des Friedens, zweisprachig in Hebräisch und Arabisch. Es ist dasselbe Lied, das Rabin kurz vor seinem Tod auf der Bühne sang. Die Menge singt mit. Für einen Moment scheint es, als würde die Zeit stillstehen. 

Tel Aviv leuchtet in der Nacht. Über den Köpfen der Menschen hängt die Frage, ob der Frieden, den Rabin versprach, wirklich tot ist – oder nur darauf wartet, wieder aufgegriffen zu werden.

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