Radikale Siedler breiten sich aus: Israels Schattenkrieg im Westjordanland

Kurz vor dem Suq, dem arabischen Markt Jerusalems, verschwinden die gelben Schleifen. Wer seine Solidarität mit den von der Terrororganisation Hamas entführten israelischen Geiseln zeigen will, packt die Anstecker an der Brust lieber ein. „Nur nicht provozieren“, heißt es.
In der überwiegend arabischen Altstadt von Jerusalem ist die Stimmung aufgeladen. Die Straßen sind leer, die Händler starren Löcher in die Luft. Kunden sind weit und breit nicht zu sehen, dafür patrouillieren Soldaten der israelischen Armee. Vor der Klagemauer am – inzwischen von Orthodoxen dominierten – Tempelberg feiert eine Gruppe israelischer Nationalisten. Unter dem Grölen der anderen reißt einer der Burschen sein Maschinengewehr jubelnd in die Höhe.
Am Vorabend zogen Tausende von ihnen anlässlich des jährlichen Flaggenmarsches durch die Jerusalemer Altstadt. Die jungen Siedler aus dem besetzten Westjordanland skandierten dabei rassistische Parolen, riefen „Tod den Arabern“. Sie bedrängten palästinensische Händler, hängten blau-weiße Nationalflaggen über deren verrammelte Läden und verklebten die Türschlösser, erzählt ein Anrainer.

Tausende rechte Siedler zogen am Montag durch Jerusalem und skandierten rassistische Parolen
Bewegungsfreiheit eingeschränkt
Seit dem Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober, als mehr als 1.200 Menschen getötet und 250 Israelis nach Gaza entführt wurden, hat sich auch in Jerusalem alles verändert. Touristen und Pilger bleiben aus – vor allem aber die Palästinenser. Schließlich haben die israelischen Behörden nach dem Kriegsausbruch die Bewegungsfreiheit der rund drei Millionen Palästinenser im Westjordanland massiv beschnitten.
Rund 165.000 Menschen, die früher täglich zur Arbeit nach Jerusalem pendelten und dafür schon vor dem Krieg mehrere Genehmigungen benötigten, wurde die Arbeitserlaubnis entzogen. Seit dem 7. Oktober 2023 ist für sie auch der Zugang zu Gesundheitsversorgung oder Bildung beschränkt – ebenso wie jener zum Tempelberg, mit Felsendom und der Al-Aksa-Moschee drittheiligste Stätte im Islam.
Unterdessen breiten sich israelische Siedler im seit 1967 besetzten Ostjerusalem weiter aus. Palästinenser werden vertrieben, ihre Häuser enteignet oder gleich ganz abgerissen. Die israelischen Behörden begründen dies mit fehlenden Baugenehmigungen – und lehnen gleichzeitig fast alle palästinensischen Anträge ab.
Die rechtsreligiöse Regierung Israels befeuert den Siedlungsbau und gießt mit provokanten Aussagen Öl ins Feuer. „Wir werden Jerusalem vereint, vollständig und unter israelischer Kontrolle halten“, sagte Premier Benjamin Netanjahu diese Woche. Sicherheitsminister Itamar Ben Gvir, der selbst aus der radikalen Siedlerbewegung entstammt und sich beim Flaggenmarsch unter jubelnde Anhänger mischte, provozierte mit einem Besuch auf dem Gelände der Al-Aksa-Moschee.

Itamar Ben-Gvir mischte sich unter jubelnde Anhänger und provozierte mit einem Besuch der Al-Aksa-Moschee
Siedlungsoffensive im Westjordanland
Auch im besetzten Westjordanland breiten sich radikale israelische Siedler im Schatten des Gazakriegs aus. Heute leben dort mehr als 500.000 Israelis zwischen rund drei Millionen Palästinensern. Bald sollen es noch mehr werden. So kündigte Finanzminister Bezalel Smotrich diese Woche die Errichtung von 22 neuen Siedlungen an. „Eine historische Entscheidung für Judäa und Samaria“, schrieb er auf X – bewusst mit dem israelischen Namen für das Gebiet. Der nächste Schritt sei die Gebietshoheit, fügte der rechtsextreme Politiker hinzu.
Smotrich selbt lebt in einer der völkerrechtlich illegalen Siedlungen hinter dem 759 km langen Stacheldrahtzaun. Laut NGOs handelt es sich die um die größte Offensive seit Jahrzehnten. Noch nie war der Siedlungsbau im Westjordanland weiter fortgeschritten.
Gewalt gegenüber Palästinensern
Auch die Gewalt nimmt in dem größtenteils von Israel kontrollierten Gebiet zu: Seit dem 7. Oktober 2023 wurden laut palästinensischem Gesundheitsministerium fast 1.000 Palästinenser bei Militäreinsätzen oder Auseinandersetzungen mit israelischen Siedlern oder Anschlägen von Extremisten getötet.

Ein israelischer Aktivist hilft einem palästinensischen Ladenbesitzer bei den Aufräumarbeiten nach dem Flaggenmarsch
Zurück in der Altstadt Jerusalems sind die blau-weißen Nationalflaggen im arabischen Viertel inzwischen verschwunden. Kinder brettern auf Scootern durch die leeren Gassen, israelische Friedensaktivisten helfen den Ladenbesitzern, ihre Türschlösser zu reparieren. Mit langen Gesichtern lassen sie am Abend die Rollläden hinunter. Auch morgen könne sie wohl kaum auf Kundschaft hoffen.
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