Israel im Krieg: Konflikt, der fatale Ausmaße annehmen kann
aus Tel Aviv Norbert Jessen
Die Überraschung war aus Sicht der radikalen islamistischen Hamas-Miliz perfekt: Tausende Raketen – Israel sprach von 2.200, die Hamas von über 5.000 – hagelten am Samstag seit Morgengrauen aus dem Gazastreifen auf Israel herab; über eine Million Israelis saßen im Landessüden, aber auch in Tel Aviv und Jerusalem in Bunkern und Schutzräumen. Die weitaus größte Gefahr aber ging von den schwer bewaffneten Kampfgruppen der Hamas aus, die auf Pick-ups und Motorrädern den Sperrzaun in Richtung Israel durchbrachen. Auf ihr Konto gingen bis zum frühen Abend mindestens 260 israelische Tote und mehr als 1.400 Verletzte.
Die vollkommene Überraschung der Hamas – ein vollkommenes Versagen für Israel.
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Schock und Gegenschlag
Bis zum späteren Samstagvormittag reagierte die israelische Regierung in Schockstarre. Die israelische Armee rief den "Kriegsmodus" aus und damit Tausende Reservisten ein. Am späten Nachmittag antwortete Israel mit heftigen Gegenangriffen auf Gaza mit Hubschraubern und Kampfjets. Palästinensische Behörden sprechen von fast 200 Toten und mehr als 1.600 Verletzten im Gazastreifen.
Samstagmittag meldet sich Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu zu Wort: "Das ist kein Grenzzwischenfall, kein Schlagabtausch. Wir sind im Krieg, und wir werden gewinnen. Seit Morgengrauen greift Hamas Israel in einer mörderischen Überraschungsattacke an."
Simchat Tora ist das Fest zur Freude der Heiligen Schrift, der Tora, die die fünf Bücher Mose umfasst. Gläubige lesen das letzte Kapitel des letzten Buches und das erste Kapitel des ersten Buches, um zu zeigen, dass die Tora kein Ende hat. Simchat Tora fällt immer auf den ersten Monat des jüdischen Kalenders, September oder Oktober, heuer eben auf den 7. Oktober.
Vor genau 50 Jahren, am 6. Oktober 1973, führte ein Überraschungsangriff Ägyptens und Syriens am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur zu einem 20-tägigen Krieg. Israel wurde damals genauso überrascht wie heute, über 2.600 Israelis starben. Heute spricht man vom Jom-Kippur-Krieg.
Angriffe von allen Seiten
Die Angriffe kamen über Land, Luft und See. In den israelischen Ortschaften nahe zum Gazastreifen sahen die Bewohner aus ihren Fenstern die wild um sich schießenden Angreifer durch die Straßen rasen. Israelische Medien berichteten, dass Bewaffnete in der südisraelischen Stadt Sderot das Feuer auf Passanten eröffnet hätten. Zivilisten versteckten sich hinter Sträuchern und in Erdgruben.
Verletzte warteten überall teils stundenlang auf Hilfe. Israels Notfallmedizin, die sonst in wenigen Minuten zur Stelle ist, konnte auf die zahlreichen Hilferufe aus dem riesigen Kampfgebiet nur schwer reagieren. Hunderte Verwundete wurden in Privatautos in die Krankenhäuser von Aschkalon und Beer Schewa gefahren, darunter Verletzte eines Sonderkommandos der Polizei, das in ungepanzerten Streifenwagen unterwegs war.
Ein Lokalpolitiker, der Präsident des Regionalrats der israelischen Grenzorte nordöstlich des Gazastreifens, wurde im direkten Schusswechsel mit den Angreifern getötet. Bilder von getöteten, entführten und gedemütigten Israeli überschwemmten am Samstag die sozialen Netzwerke.
Micha aus dem Kibbuz Kfar Asa stellte im Sender Kan eine Frage, die sich viele Israelis stellten: "Wo bleibt die Regierung? Was macht sie? Sie erweist sich alles in allem nur als ein großer Fehler."
"Unser Feind wird einen Preis bezahlen, wie er ihn noch niemals kennengelernt hat", wurde Netanjahu in den Medien zitiert.
➤ Kommentar: Es ist Krieg, und der Verlierer steht schon fest
Währenddessen zeigte sich die Führung der Hamas in den Netzwerken zufrieden lächelnd in ihrem Krisen-Raum vor Monitoren mit Bildern des israelischen und palästinensischen Fernsehens. Ein Hamas-Reporter erklärte, er würde direkt aus Israel berichten. Eindeutig belegen ließ sich das nicht.
Andere Bilder zeigten klar die Geiselnahme von mindestens drei israelischen Soldaten. Der TV-Sender Reshet hingegen sprach von 13 israelischen Geiseln, die in der südisraelischen Stadt Ofakim festgehalten würden.
Geheimdienst überrascht
"Die Hamas hat heute Morgen einen schweren Fehler begangen und einen Krieg gegen den Staat Israel begonnen", so der israelische Verteidigungsminister Yoav Galant. Der israelische General Assaf Alouan sagte vor Kameras: "Mit diesem Angriff hat Hamas für Gaza die Tore zur Hölle geöffnet."
Die anfängliche Zurückhaltung der Armee versuchte er damit als "Ruhe vor dem Sturm" zu erklären. Es ist allerdings unbestreitbar, dass der Angriff selbst Israels Sicherheitskräfte schwer überrumpelte. Erinnerungen kommen hoch an vor genau 50 Jahre, als ägyptische und syrische Angriffe Israels Armee aus ihrer Jom-Kippur-Feiertagsruhe bombten. Auch damals hieß es in Israel: "Mechdal" – Versagen.
Noch vergangene Woche meldeten Israels Medien militärische Übungen der Gaza-Milizen in Sichtweite zum Sperrzaun. Es dürften die letzten Vorbereitungen der Attacke gewesen sein. Vorbereitungen, die sich über Monate hingestreckt haben müssen. In den vergangenen Wochen gab es immer wieder gewaltsame Proteste an der Gaza-Grenze, die israelische Luftwaffe griff mehrmals Posten der Hamas an. Und dennoch blieben Israels Geheimdienste bei ihrer Einschätzung: "Die Hamas will zu diesem Zeitpunkt keinen schweren Konflikt."
Muchammad Depp, Chef der Hamas-Milizen, meldete sich am Vormittag aus dem Untergrund – nach zwei ihn nur knapp verfehlenden israelischen Bomben –, gelähmt und mit Narben übersät. Er rief die arabischen Nachbarn auf, sich dem Hamas-Angriff anzuschließen. Der Appell ging an die mit dem Iran verbündeten Milizen im Libanon und in Syrien, allen voran an die mit Zigtausenden Raketen ausgestattete Schiitenmiliz Hisbollah im Libanon. Diese haben (bisher) gute Gründe noch zu zögern: Ihre Vorreiter-Stellung wäre gefährdet, käme es im wirtschaftlich gescheiterten Libanon zu schweren israelischen Bombardierungen.
- Israelischer Abzug: Auf einem Gebiet von nur 365 Quadratkilometern (kleiner als Wien) leben 2,4 Millionen Menschen. Sie sind mehrheitlich die Nachfahren von palästinensischen Flüchtlingen aus dem Krieg von 1948. Die Lebensbedingungen in dem überwiegend abgeriegelten Gebiet sind äußerst prekär. Im Sommer 2005 zieht die israelische Armee aus dem schmalen Küstenstreifen ab, an die 9.000 jüdische Siedler müssen gehen.
- Krieg 2008: Ein Jahr davor übernimmt die radikal-islamische Hamas in Gaza die Macht. Nach massivem Raketenbeschuss startet Israel eine 22-tägige Militäroffensive auf Gaza – an die 1.400 Palästinenser werden getötet.
- Krieg 2014: Die Entführung und Ermordung von drei israelischen Teenagern durch die Hamas führt zu einem siebenwöchigen Krieg im Sommer, bei dem mehr als 2.100 Palästinenser getötet werden. 73 Israelis sterben.
- Unruhen 2018: Während mehrere Monate lang anhaltender Proteste werden rund 170 Palästinenser getötet.
- Krieg 2021: Die Hamas feuert im Mai aus dem Gazastreifen einen Raketenhagel auf Israel ab. Israel schlägt mit Luftangriffen zurück. Die Kämpfe dauern elf Tage, an die 250 Palästinenser sterben. In Israel werden 13 Menschen getötet.
- Unruhen 2022: Bei einem israelischen Luftangriff wird ein Kommandant der Al-Aksa-Brigaden getötet. In drei Tagen dauernden Kämpfen sterben 44 Menschen.
Was will die Hamas?
Die Hamas kann nur auf kurzfristige Erfolge abzielen, ihre Kampfkraft reicht nur für Tage. Langfristig hat sie keine Chance gegen die israelische Armee. Bislang aber führte noch jeder Waffengang mit Israel letztlich zu Verhandlungen, die meist Ägypten moderierte, und Zugeständnissen Israels an die Hamas wie etwa Geldhilfe oder Arbeitsbewilligungen für Gastarbeiter aus Gaza. Dort wächst der Frust mit der wirtschaftlichen Unzufriedenheit.
Doch ein bisschen Finanzhilfe wird diesmal wohl nicht reichen. Der Rundumschlag zielt eher auf einen "Diskettenwechsel" ab. Zwar hatte die Hamas mit der Geiselnahmen und der Demütigung der israelischen Geheimdienste Erfolg. Doch Israel holte bereits am Samstag zum Gegenschlag aus – auch, um seine Abschreckungskraft nicht zu verlieren. Dabei wird auch ein Blick auf den Iran geworfen: Die Mullah-Regierung in Teheran will die politische Annäherung Israels an die Golf-Staaten und Saudi-Arabien stören. Diese Schlappe Israels könnte durchaus einen Teil dazu beitragen.
Die Besorgnis ist groß – alle in Israel wissen, dass sich ein Krieg am Gazastreifen schnell zu einem Nahost-Krieg ausweiten kann.
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