Hunderttausende im Gazastreifen wollen fliehen - aber können oder dürfen nicht
Zwei Millionen Menschen leben im Gazastreifen, mehr als die Hälfte soll evakuiert werden. Schützen können sie sich kaum: Die Hamas hindert sie an der Flucht, Ägypten riegelt die Grenze im Süden ab, und Bunker gibt es nur für die Hamas-Führung.
Eigentlich hätte die Frist schon am Freitag enden sollen. Doch Fliehen im Gazastreifen, das ist ein fast unmögliches Unterfangen, wie auch die israelische Militärführung erkannt hat. „Wir sind uns im Klaren, dass das Zeit braucht“, ließ man am Samstag wissen. Die Evakuierungsfrist wurde ausgedehnt.
Knapp zwei Millionen Menschen leben in dem gut 40 Kilometer langen Küstenstreifen südlich von Israel, der an seiner breitesten Stelle 14 Kilometer, an seiner engsten Stelle gerade mal sechs Kilometer misst. Das Areal ist eine der am dichtesten besiedelten Regionen der Welt, und es gibt nur zwei befestigte Straßen, auf denen die Menschen aus dem Norden in den Süden fliehen können.
Beide Routen waren schon vor dem Beschuss aus Israel teils beschädigt. Am Samstag drängten sich dort Autos, Lastwagen und Eselskarren. Ihr Ziel: Wadi Gaza, ein schmales Sumpfgebiet, das sich in der Mitte des Gazastreifens von Ost nach West zieht – es ist das Ende der Evakuierungszone, die Israel definiert hat.
Kein Strom mehr
Nur: Viele der 1,1 Millionen Menschen werden es nicht über diese Linie schaffen. Im nördlichen Teil des Gazastreifens befinden sich nämlich mehr als zehn Krankenhäuser, aus denen kranke und alte Menschen schlicht nicht evakuiert werden können. „Solche Menschen zu transportieren, kommt einem Todesurteil gleich“, hieß es dazu von der WHO.
Österreicher im Gazastreifen
Laut dem Außenministerium befinden sich auch noch mehr als 30 Österreicherinnen und Österreicher samt Angehörigen im Gazastreifen. Man bemühe sich, allen Ausreisewilligen eine Ausreise nach Ägypten zu ermöglichen.
Einige Spitäler wurden zudem bereits von israelischen Bomben getroffen, eine der größten Kliniken ist seither außer Betrieb, die anderen arbeiten unter widrigsten Bedingungen. Im gesamten Gazastreifen fehlt es an Strom, seit Israel Anfang der Woche die Stromzuleitungen abgeschaltet hat.
Zuvor deckten die etwa zwei Drittel der Stromversorgung der Region ab, den Rest erzeugte ein einziges Kraftwerk innerhalb des Gazastreifens – seit Mittwoch steht es allerdings still, weil kein Diesel mehr da ist. Auch Wasser ist mittlerweile Mangelware, viele Leitungen sind kaputt – auch, weil die Hamas die Rohre zum Bau neuer Raketen nutzt.
Wie viele Menschen im Nordteil geblieben sind, kann derzeit nicht mal die UN-Agentur für palästinensische Flüchtlinge schätzen. Was die Menschen vom Fliehen abhält, ist auch die Hamas selbst: Die Terroristen nutzen Zivilisten als menschliche Schutzschilde, bauen ihre Stellungen oft in Kellern von Schulen und Krankenhäusern.
Augenzeugenberichten zufolge wurden am Samstag Palästinenser, die Richtung Süden aufbrechen wollten, unter Androhung von Gewalt daran gehindert. Via Social Media und auch in Interviews etwa mit Al Jazeera rief die Hamas-Führung die Bewohner auf, „standhaft“ zu bleiben – die Warnungen der Israelis seien nur leere Drohungen.
Wer bleibt, hat allerdings kaum Chancen, einen Angriff zu überleben. Bunker für Zivilisten existieren im Gazastreifen praktisch nicht, Schutzräume hat fast ausschließlich die Hamas-Führung für sich geschaffen. Und wer es in den Süden schafft, den erwarten überfüllte Lager – und keine Chance zur Ausreise: Weil Israel sowohl die Seegrenze als auch den nördlichen und westlichen Grenzstreifen kontrolliert, könnten Flüchtlinge nur im Süden nach Ägypten ausreisen. Doch auch dort gibt es kein Durchkommen, zuletzt wurden sogar provisorische Wände aufgestellt, um die Menschen aufzuhalten.
Ägyptens Machthaber Al-Sisi will damit einen Massenexodus Richtung Sinaihalbinsel verhindern. Man fürchtet, dass die Geflohenen dauerhaft in Ägypten bleiben könnten, zudem ist die Angst vor Terroranschlägen im eigenen Land groß. Denn Kairo geht seit Jahren mit harter Hand gegen die Muslimbruderschaft vor – und die Hamas gilt als einer ihrer Ableger.
(kurier.at, ep)
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Aktualisiert am 14.10.2023, 20:56
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