"Kammer des Schreckens": Wieso 796 irische Babies geheim begraben wurden

IRELAND-INVESTIGATION-RELIGION
2014 flog in der irischen Stadt Tuam ein Skandal auf, der die Welt erschütterte. Nun werden letzte Vorbereitungen für die Ausgrabung des Massengrabs getroffen.

Es war ein Moment, den Mary Moriarty nie vergessen würde. Anfang der 1970er-Jahre in Tuam, ihrer Heimatstadt in Westirland, sah Mary – so würde sie es vor ihrem Tod der BBC erzählen – einen Buben mit einem Totenkopf spielen. Woher er den habe, fragte sie. Der Bub zeigte auf ein Gebüsch. Als Mary nachschauen ging, „fiel sie in ein Loch“ und sah, um sich herum, „kleine Bündel“ in Tücher eingewickelt, von Fäulnis und Feuchtigkeit schwarz, und „hintereinander in Reihen bis zur Decke gepackt“. Jahre später, als Mary ihren neugeborenen Sohn in ebensolchen Tüchern gereicht bekam, wurde ihr klar: die Bündel in dem Loch, das waren Babies.

IRELAND-CHILDREN-ABUSE-INQUIRY

Kleine Socken, Stofftiere, laminierte Gedichte: Auf dem Areal ist ein Gedenkgarten entstanden.

Lange Zeit wurde angenommen, dass das Massengrab auf dem Spielplatz einer heutigen Wohnhausanlage auf die irischen Hungerszeit in den 1840er-Jahren zurückging; immerhin hatte sich an dieser Stelle ein Arbeitshaus befunden. 

Hobby-Historikerin deckte Skandal auf

Doch dann begann die Hobby-Historikerin Catherine Corless 2005 über ihre lokale Geschichte und dabei auch über das St Mary's Mutter-Kindheim zu recherchieren. Bald stieß sie auf Ungereimtheiten, fehlende Dokumente, eine Grabstätte, wo sich früher ein Klärtank befand. Und schließlich jene Liste von Babies und Kleinkindern die zwischen 1925 und 1960 in der Stadt gestorben waren. Corless erwartete vielleicht 20 oder 30 Namen. Es waren 796. 

Irish government apologises following an investigation into Ireland's mother-and-baby shelters

2021 haben sich die Bon Secour Sisters "zutiefst entschuldigt".

Doch zu keinem der Todesfälle gab es Bestattungsunterlagen. Nach langjähriger Recherche kam Corless zum folgenschweren Schluss: Hunderte Babies und Kleinkinder wurden von den Schwestern in einer unterirdischen Klärtankanlage entsorgt. 

Drei Jahre später wurde die „Kammer des Schreckens“ offiziell bestätigt. Und der Skandal weitete sich aus: 2021 kam ans Licht, dass in 18 irischen Institutionen insgesamt 9.000 Kinder und Babies zu Tode kamen.

Von der Gesellschaft verstoßen

Zum Hintergrund: Die katholische Kirche ist in Irland eine äußerst einflussreiche Institution. Bis 2018 waren Abtreibungen illegal; zwischen 2010 und 2014 reisten deshalb fast 25.000 Irinnen nach England, um dort Schwangerschaftsabbrüche durchführen zu lassen.  

In den 1920er-Jahren wurden unverheiratete schwangere Frauen noch von ihren Familien geschämt, der Gesellschaft verstoßen und in Mutter-Kind-Heime wie das St. Mary’s abgeschoben.

Press conference ahead of a visit to the excavation site of Bon Secours Mother and Baby Home, in Tuam

Am 14. Juli starten die Ausgrabungen auf dem Areal des früheren Mutter-Kind-Heims.

Bagger auf der Grabstätte

Am Montag, elf Jahre nach Corless’ Erkenntnissen, haben nun Bagger begonnen, die Erde, auf dem sich das Heim der Bon Secours Sisters befunden hatte, aufzugraben.

Zwei der Kinder, die unter dem Heim begraben sein könnten, sind John und William, die Brüder von Anna Corrigan. Sie hofft, die sterblichen Überreste ihrer Brüder bald im Familiengrab neben ihrer Mutter beisetzen zu können. „Sie hatten weder im Leben noch im Tod eine Würde“, sagte die Irin zu Channel 4. „Wir werden vielleicht nicht alle Antworten bekommen, aber es ist der Anfang von etwas.“

Excavation at the site of Bon Secours Mother and Baby Home, where bodies of 796 babies were uncovered, in Tuam

Anna Corrigan hofft, die Überreste ihrer Brüder bald im Familiengrab neben ihrer Mutter beisetzen zu können. 

Einfach wird das Unterfangen nicht, meinte Ausgrabungsleiter Daniel MacSweeney, der schon bei der Suche nach vermissten Leichen in Konfliktgebieten geholfen hat, gegenüber britischen Medien. Man müsste die sterblichen Überreste „sehr, sehr sorgfältig bergen“, um die Möglichkeit der Identifizierung zu maximieren. Denn Überreste wurden miteinander vermischt. Und der Oberschenkelknochen eines Säuglings, der größte Knochen des Körpers, sei nur so groß wie der Finger eines Erwachsenen.

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