Lieber sterben als Scheidung? Wie indische Frauen das Patriarchat herausfordern

Von Franziska Trautmann
Verliebt, verlobt, verheiratet – geschieden? Obwohl Indien weltweit eine der niedrigsten Scheidungsraten mit etwa einem Prozent hat, entscheiden sich immer mehr Frauen für eine Trennung. Meistens eine große Überwindung, denn in der Gesellschaft gilt Scheidung als Tabu-Thema. Rafia Afi, eine 31-jährige Unternehmerin, dreht jetzt aber den Spieß um: mit einem Heilungscamp für Geschiedene. Unter dem Namen „Break Free Stories“ bietet sie nicht nur ihre „Bootcamps“ an, sondern stürzt das kulturelle Stigma: Scheidung ist nicht das Ende.
"Freitod statt Scheidung"
In Indien spielen von den Eltern arrangierte Ehen immer noch eine große Rolle – Liebesheiraten sind eine Ausnahme. Viele junge Männer sind der Meinung: eine Frau soll ihrem Ehemann dienen, sich ihm ganz widmen und die eigenen Bedürfnisse zurückstellen.
Durch das patriarchalische Denken in der Gesellschaft werden Frauen gezwungen in missbräuchlichen Ehen zu bleiben, auch wenn damit zusammenhängende Todesfälle weiterhin Schlagzeilen machen. Laut der jüngsten in Indien veröffentlichten nationalen Erhebung zur Familiengesundheit berichteten 32 % der verheirateten Frauen zwischen 18 und 49 Jahren von häuslicher Gewalt.
„Es begehen sehr viele Frauen Suizid in Indien, weil sie die häusliche Gewalt nicht mehr ertragen. Scheidung sehen sie nicht als Option, sie haben Angst davor. Sie wählen den Freitod statt einer Scheidung. Aber man erkennt langsam Veränderung, in der jetzigen Generation sind Frauen gebildet. Sie wählen sich selbst und ihre Selbstachtung “, erklärt Afi.
Afi hat mittlerweile schon unterschiedliche Reaktionen von Männern auf ihre Camps erlebt: „Manche Männer sind unterstützend, andere fühlen sich davon angegriffen, weil sie einen anderen Blickwinkel auf Scheidung haben. Viele fühlen sich provoziert. Ich wurde auch schon öfter als Beziehungszerstörerin bezeichnet.“ Immer mehr Frauen durchbrechen dieses kulturelle Stigma nun aufgrund zunehmender Bildung und Erwerbstätigkeit - und dank wachsendem Bewusstsein für individuelle Rechte. Und mit Afis „Break Free Stories“ gibt es nicht nur Raum für das Umdenken, sondern es wird auch öffentlich zelebriert.

Rafia Afi, Gründerin von "Break Free Stories"
Geschichten teilen um zu heilen
Im Mai rief Afi ihr Projekt ins Leben. Ein paar Camps später überlegt sie bereits, ihr Konzept weltweit anzubieten. Wie das alles begann? Sie selbst trennte sich vor knapp einem Jahr von ihrem Mann. Ihre Familie und Freunde waren sehr unterstützend und halfen ihr durch die Scheidung. Für sie normal, in Indien die Ausnahme.
“Ich habe meine Situation in den Sozialen Medien geteilt - und Frauen haben plötzlich begonnen, mir ihre Geschichten zu erzählen. Da ist mir erst aufgefallen, wie privilegiert ich bin, eine unterstützende Familie und Freunde zu haben. So viele Frauen leiden allein. Deshalb wollte ich dieses Camp ins Leben rufen, um ihnen auch die gleiche Möglichkeit, wie ich sie hatte, zu geben “, erzählte sie dem KURIER.

Break Free Stories, Camp für geschiedene Frauen
"Break Free Stories" will Gemeinschaften aufbauen
Sie gründete „Break Free Stories“, um eine Gemeinschaft von Frauen aufzubauen, die sich untereinander über ihre Erfahrungen austauschen und unterstützen können. Das Camp dauert zwei Tage mit einer Übernachtung und ist für 15-20 Teilnehmerinnen ausgelegt. In der Zeit wandern sie durch die Berge, sitzen beim Lagerfeuer, singen und tanzen und teilen ihre Geschichten.
Die Kosten betragen mehr als 1.700 Rupien (17 Euro), Afi hält aber ein paar kostenlose Plätze für diejenigen frei, die es sich nicht leisten können. Sie möchte die Unterstützung für jede zugänglich machen, denn in Indien verdient eine Frau durchschnittlich 20.000 Rupien, das wären knapp 194 Euro. Somit würde das Camp fast zehn Prozent des Einkommens ausmachen. „Neben den Camps gibt es auch Treffen, die sind kostenlos und mittlerweile in jeder Stadt. Viele geschiedene Frauen können sich nicht viel leisten, aber ich möchte ihnen trotzdem Raum geben, ihre Geschichten zu teilen und zu heilen.“
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