Migranten-Tausch mitten in Europa: "Einer rein, einer raus"

Von Franziska Trautmann
Zusammengepfercht in einem Boot über den Ärmelkanal – für viele Flüchtlinge eine lebensgefährliche Reise, um nach Großbritannien zu kommen. Trotzdem gehen jedes Jahr mehrere Tausend das Risiko ein. Jetzt könnte es aber eine neue Lösung geben, um das Schleuser-Netzwerk zu zerschlagen und sichere Einreisen zu bieten.
Großbritannien und Frankreich haben ein Migrations-Abkommen geschlossen, seit vergangenem Mittwoch ist das Pilotprojekt in Kraft. Briten und Franzosen setzen große Stücke darauf, das Konzept muss sich allerdings noch in der Praxis beweisen.
Maßnahme gegen illegale Migration
Das neue Verfahren ermöglicht es den Briten, Migranten, die den Ärmelkanal illegal überquert haben, nach Frankreich zurückzuschicken. Dafür darf eine andere Person mit Bezug zu Großbritannien über eine sichere Route einreisen. Etwa wenn Verwandte bereits dort leben. Dabei muss es sich aber um einen Migranten handeln, der noch nicht versucht hat, illegal einzureisen. Jene Migranten, die Frankreich zurück nimmt, kann es in vielen Fällen weiterschicken, falls diese nämlich aus einem anderen EU-Land eingereist sind. Aufgrund der Dublin-Verordnung müssen Asylverfahren in jenem EU-Staat durchgeführt werden, wo ein Migrant zuerst EU-Territorium betreten hat.
Nach derzeitigem Stand soll das Pilot-Projekt bis Juni 2026 gehen und vorerst 50 Migranten pro Woche umfassen. Vergleichsmäßig wären das aber nur sechs Prozent von den Ankünften aus 2024. „Die Zahlen werden zunächst niedriger sein und dann steigen“, sagte die britische Innenministerin Yvette Cooper am Dienstag gegenüber Sky News. Das Programm soll auch nur Neuankömmlinge betreffen. Großbritannien wird laut Vertrag alle Kosten für die Rückführung übernehmen und die gleiche Anzahl von Migranten aus Frankreich aufnehmen – ein quid pro quo.
56 Prozent mehr über Ärmelkanal
Mit der Abmachung möchte man das Schleuser-Netzwerk im Ärmelkanal zu zerschlagen. Schleuser bieten um große Geldsummen eine Überquerung des Meeresarms an. Die Routen sind weder legal noch sicher. In kleinen Schlauchbooten stapeln sich die Menschen schon fast übereinander. Immer wieder kommt es zu tödlichen Tragödien mit sinkenden Booten. Allein im Jahr 2024 sind mindestens 72 Menschen dabei ums Leben gekommen.
Trotzdem ist die Nachfrage so groß wie noch nie: dieses Jahr sind bereits rund 25.000 Menschen über den Ärmelkanal nach Großbritannien gekommen. Ein Anstieg von fast 56 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum.
Ob das gemeinsame Vorhaben in der Realität so gut funktioniert wie am Papier, steht noch offen. Judith Kohlenberger, Migrationsforscherin am Institut für Sozialpolitik der Wirtschaftsuniversität Wien (WU), führt gegenüber dem KURIER aus: „Wer annimmt, dass dadurch überhaupt keine Überfahrten mehr stattfinden oder dass dadurch das internationale Schlepperwesen komplett zerschlagen wird, setzt seine Erwartungen zu hoch an.“ Laut ihr könne man in der Zukunft idealerweise einen Rückgang beobachten, vor allem wenn man den Menschen reguläre Wege nach England in ausreichender Menge zeigt und es sich auszahlt darauf zu warten.
Nur ein Faktor von vielen
In Kohlenbergers Augen hat das Konzept Potenzial, dennoch müsse man bedenken „diese konkrete politische Maßnahme, ist nur ein Faktor von vielen, die in die Migrationsentscheidung hineinspielen. Die Leute haben ja gewichtige Gründe, warum sie diese Überfahrt wagen. Die liegen vor allem im Herkunftsland.“ Sie seien von den Versprechen der Schlepper abhängig und meist nicht über das System oder legale Wege der Migration informiert.
Zwar ist das neue Abkommen ein Pilotprojekt, das Konzept haben aber weder die Briten noch die Franzosen neu erfunden. So manchen könnte dieses „One in, One out“-Prinzip an den damaligen EU-Türkei-Deal aus 2016 erinnern. Dieses Abkommen sah vor, dass für jeden syrischen Flüchtling, der von den griechischen Inseln in die Türkei zurückgeschickt wird, ein syrischer Flüchtling aus der Türkei in der EU neu angesiedelt wird.
Obwohl Kohlenberger im britisch-französischem Abkommen bessere Voraussetzungen und größere Chancen auf Veränderung als beim EU-Türkei-Deal sieht, bleibt sie bei der tatsächlichen Rückführung der Migranten skeptisch. Für sie zeigen sich in der Praxis noch Umsetzungslücken aufgrund fehlender Reisedokumente, gesundheitlichen Gründen oder weil Identitätsnachweise fehlen.
Zahlen steigen seit Brexit
Dennoch setzt die britische Regierung große Stücke auf das neue Migrations-Abkommen, vor allem, um ihre rasant steigenden Flüchtlingszahlen zu bremsen. Denn das Verlassen der EU 2020 hat hingegen anderer Erwartungen einen Anstieg von Migration gebracht.
Für Kohlenberger eine logische Folge: „Das ist auch gar nicht so überraschend, denn: Je härter ich die Grenzen kontrolliere und je schwieriger ich diesen Übergang mache, desto eher bleiben Menschen mit abgelaufenem Kurzzeitvisum dauerhaft. Und desto eher nehmen Menschen riskante Umwege auf sich, ums ins Land zu gelangen.“ Und vor dem Brexit hat für Großbritannien auch die Dublin-Verordnung gegolten. Jetzt sind sie auf die helfende Hand ihrer EU-Nachbarländer wie Frankreich angewiesen.
Aber nicht alle EU-Staaten sind vom britisch-französischem Abkommen begeistert. Südliche Länder wie Italien, Spanien oder Griechenland stehen dem kritisch gegenüber. Denn die meisten Flüchtlinge betreten im Mittelmeerraum zum ersten Mal EU-Territorium. Daher kann Frankreich laut der Dublin-Verordnung sie dorthin zurückschieben. Migranten, die also ohnehin nicht auf Dauer in Frankreich bleiben dürfen, könnten daher versuchen, gleich auf eigene Faust weiterzuziehen.
Ob so ein bilaterales Abkommen auch in anderen EU-Ländern kommen könnte, verneint Kohlenberger: „Mit der Reform des gemeinsamen europäischen Asylsystems, also dem Migrationspaket, ist es geplant einen Verteilungsmechanismus umzusetzen. Ein Ende der Ungleichverteilung würde das europäische Asylsystem spürbar verbessern.“
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