Gaza: Immer mehr in Richtung Krieg

Eine Rakete startet mit einer Rauchwolke in den blauen Himmel.
Massiver Beschuss, Dutzende Tote - die Gefahr eines Krieges wächst. Wie die Bewohner von Tel Aviv den Beschuss erleben.

Die Gefahr eines neuerlichen Krieges zwischen Israel und radikalen Palästinensern im Gazastreifen wächst: Mit ihren Raketenangriffen dringen die Islamisten immer weiter auf israelisches Gebiet vor. Israelische Abwehrsysteme fingen nach Militärangaben gestern mindestens zwei Geschoße ab, die Richtung Tel Aviv geflogen waren. Binnen 24 Stunden wurden mehr als 100 Raketen auf Israel abgefeuert.

Durch den andauernden Raketenbeschuss und die neue, viel größere Reichweite der Geschoße seien vier der acht Millionen Israelis von den Raketen bedroht, sagte am Mittwoch ein Armeesprecher. Die israelische Luftwaffe flog ihrerseits seit Wochenbeginn mehr als 440 Luftangriffe auf Ziele im Gazastreifen. Dabei dürften 40 Menschen ums Leben gekommen sein, mehr als 250 Palästinenser wurden verletzt.

Bodentruppen

Eine Karte, die Raketenangriffe und Luftangriffe im Nahost-Konflikt zwischen Israel und den umliegenden Gebieten zeigt.
Zugleich stimmt die Regierung in Jerusalem die Israelis auf einen möglicherweise länger anhaltenden Konflikt ein und schließt den Einsatz von Bodentruppen nicht mehr aus. Bis zu 40.000 Reservisten sollen einberufen werden. Zuletzt waren israelische Truppen vor rund fünf Jahren in den Gazastreifen eingerückt. Auch damals hatte massiver Raketenbeschuss aus palästinensischen Stellungen die Armee veranlasst, gegen die Extremisten vorzurücken.

Wie schon 2009 könnte auch diesmal Ägypten versuchen, zwischen der radikal-islamischen Hamas im Gazastreifen und der israelischen Führung eine Waffenruhe auszuhandeln. Bisher wurde jedoch noch nichts über konkrete Schritte bekannt. Die neue Führung in Kairo steht der Hamas eher feindlich gegenüber.

Das sollen Alarmsirenen sein? Der Gebetslautsprecher der Moschee nebenan ist lauter. Erst der vorwurfsvolle Blick von Schäferhund Rex macht die Gäste des kleinen Kaffee-Kiosk am Jerusalem-Boulevard auf das Heulen aufmerksam. Es klingt irgendwie nach Katze. Die Menschen schauen sich fassungslos an. Das Radio unterbricht die Nachmittagsmusik: "Alarm im Großraum Tel Aviv! Alarm im Großraum Tel Aviv. Bitte begeben Sie sich in den nächstliegenden Schutzraum. Alarm in ..."

Eine junge Frau läuft als Erste los. Schnell folgen die anderen. In den Hausflur hinter dem winzigen Schneider-Atelier gleich nebenan. Dann noch einen halben Treppenabsatz hoch. So empfiehlt es der Zivilschutz. Jeden Abend, nach den Fernsehnachrichten.

Eine große Explosion erhellt den Himmel über einer Stadt.
epaselect epa04305650 Smoke rises after an attack of Israeli aircraft in the South of Gaza City, Gaza Strip, 08 July 2014. Israel the same day launched an offensive against the Gaza Strip by conducting a series of fresh airstrikes in response to increasing rocket attacks by Palestinian militants. There have been more than 120 Israeli airstrikes in the coastal enclave, according to Palestinian sources, while hundreds of rockets and mortar shells have landed in southern Israel. Israeli military spokesman Peter Lerner said the offensive, named Protective Edge, could grow into a 'ground mission if required.' EPA/MOHAMMED SABER
Roni bleibt hinter seiner Espresso-Maschine. Erst der Latte, dann der Alarm. Der Milchschäumer zischt lauter als die Sirenen. Nach fünf Jahren in einer Elite-Einheit der israelischen Armee bringt Roni so schnell nichts aus der Fassung. "Ihr sollt doch mindestens zehn Minuten in Deckung bleiben", ruft er den ersten Hausflur-Rückkehrern etwas hämisch zu. Ein lauter Rumms und eine gut spürbare Druckwelle geben ihm recht.

Jetzt schaut Roni gar nicht mehr hämisch hoch. Eine dunkle Rauchwolke mit bläulichen Spinnenarmen steht am wolkenlosen Juli-Himmel. "Wow, da oben, schaut euch das an..." Tatsächlich, einige Kilometer südlich ist etwas explodiert. Alle zücken ihr Smartphone, filmen und wählen: "Hier ist alles okay. Da hat was am Himmel geknallt. Wie geht es euch?"

"Eiserne Kuppel"

Die monotone Stimme im Radio meldet: "Südlich von Rischon LeZion konnte eine Abwehrrakete den Anflug einer feindlichen Rakete stoppen."

Die Menschen am Kiosk schauen sich an. "Toll, diese ,Eiserne Kuppel‘ (Raketenabwehrsystem) ist wirklich gut. Und wie wurde sie von allen kritisiert: Als Geldvergeudung", ruft jemand. Doch die Aufmerksamkeit richtet sich bereits auf die junge Frau, die als Erste losrannte und erst jetzt als Letzte zurückkehrt.

Niemand lästert, aber es ist ihr trotzdem peinlich. "Ich bin aus Sderot, ich spring bei jedem Alarm sofort los", sagt sie. Jetzt erntet die Bewohnerin aus dem bombardierten Süden Israels verständnisvolle Blicke: "Sicher bist du nach Tel Aviv gekommen, um mal aus dem Raketenhagel rauszukommen", meint Roni, "und jetzt beschießen sie dich hier auch."

Matura im Bunker

Moran heißt sie, ist 22 und möchte in Tel Aviv Migrationsforschung studieren. Hier sei die Raketenanflugzeit etwas länger als in ihrer Heimatstadt, erklärt sie. Sie wuchs in Sichtweite zum Gazastreifen auf. Bei der Englisch-Matura rannte sie drei Mal in den Bunker. Die anderen Prüfungen schrieben sie im Bunker.

Benjamin, der mit über 90 Jahren aufrecht seine Einkäufe selbst erledigt, schaut sie aufmerksam an. "Hör mal, Mädchen, wenn ich alle Kriege und Bomben aufzähle, die ich hinter mir habe, trinken wir hier anschließend unseren Frühstückskaffee."

Wieder Schweigen. Roni stellt Moran einen Kaffee "on the house" auf das Thekenbrett vor dem Kiosk-Fenster. "Du hast ja recht, unser gutes Gewissen darf ruhig ein wenig schlechter sein", und lacht, "was euch im Süden aber auch nicht viel helfen wird."Dann wird er ernster: "Meinen Bruder haben sie um sechs Uhr Früh telefonisch mobilisiert. Vier Stunden vorher war er noch beim Public Viewing Brasilien – Deutschland am Strand. Seinen Reserve-Sack hatte er schon gepackt. Ich sag dir, fünf Minuten nach dem Anruf raste er schon auf seinem Motorrad los."

Die berüchtigte "Seifenblase Tel Aviv" ist so autistisch nicht, sind sich die Anwesenden einig. Nur 47 Kilometer entfernt beginnt der Gazastreifen. Und der Stadtteil Jaffa liegt noch näher an Gaza als der Norden der Stadt.

"Alles kaputtschlagen"

Ein schwarz gekleideter Mann um die 40 stellt sich neugierig zur heftiger diskutierenden Gruppe: "Ich sag nur, die Armee muss da wieder rein. Alles kaputtschlagen da, draufschlagen und noch mal drauf." Einige nicken zustimmend, andere zucken ratlos mit den Schultern.

Ephraim vom Gemüsegeschäft gegenüber bestellt einen neuen Espresso. Theatralisch legt er die Hand an die Stirnglatze: "Ich erinnere mich. Gaza, ein Mal jährlich Abenteuerurlaub für junge Tel Aviver mit der Reserve auf Armeekosten: Sprengfallen am Straßenrand, Schüsse aus dem Hinterhalt. Ein Mal jährlich treffen wir alte Kameraden uns zum Erinnerungsaustausch auf dem Soldatenfriedhof. Mal bei Gadi, mal bei Dani, alle haben den gleichen Grabstein." – "Und wie viel Grabanlagen glauben Sie denn, kann sich die Staatskasse sparen, wenn sie dem Raketenhagel jetzt tatenlos zuschaut?", fragt der 40-Jährige in Schwarz.

Themenwechsel, aber nicht ganz: heute Nacht, Niederlande gegen Argentinien. "Hoffentlich stört da kein Alarm. Die Hamasniks wollen doch auch das Spiel sehen ..."

Am Nebentischchen steht Benjamin langsam auf: "Raketen und Bomben sind keine Tore, erst recht nicht, wenn sie einschlagen", sagt er, "oder vielleicht doch? Dann wäre aber jedes Tor ein Eigentor."

Die Nahostexpertin Dr. Muriel Asseburg von der Stiftung Wissenschaft und Politik Berlin analysiert im Gespräch mit dem KURIER die politische Situation rund um die Gazaoperation.

KURIER: Der israelische Verteidigungsminister hat schon angekündigt, dass diese Operation über mehrere Tage gehen kann und der beidseitige Raketenbeschuss scheint nicht abzunehmen. Wie schätzen Sie denn den weiteren Verlauf der Militäroperation ein?

Nahostexpertin Muriel Asseburg: Ich denke, dass die Militäroperation tatsächlich nicht schnell enden wird. Die israelische Regierung hat angekündigt, Hamas und anderen militanten Gruppen einen empfindlichen Schlag zu versetzen. Sie wird die Operation kaum einstellen, bevor der Raketenbeschuss aus Gaza aufhört. Hamas hingegen hat ein Interesse daran, zu demonstrieren, dass sie in der Lage ist, über einen längeren Zeitraum Ziele in ganz Israel zu treffen. Erst wenn die israelische Regierung ihre Ziele erreicht hat, wird sie bereit zu Gesprächen über eine Waffenruhe sein.

Welche verschiedenen Gruppierungen sind im Gazastreifen im Konflikt beteiligt und wie ist deren Dynamik untereinander?

Der Raketenbeschuss geht nicht mehr nur von kleineren extremistischen Gruppierungen und dem Islamischen Dschihad, sondern auch von der Hamas aus. Versuchte die Hamas-Führung den Beschuss einzudämmen bzw. zu verhindern, solange sie selbst Interesse an einem Waffenstillstand hatte, ist dies nun nicht mehr länger der Fall. Denn in Folge der Entführung und Ermordung von drei jüdischen Religionsschülern in der Westbank kam es zu einer massiven Verhaftungswelle in der Westbank, zu Vergeltungsmaßnahmen gegen Hamas-Häftlinge und zur Bombardierung unter anderem von militanten Hamas-Führern im Gaza-Streifen. Dies wiederum beantwortete die Hamas mit einer massiven Ausweitung des Beschusses Israels.

Wie ist diese Eskalation überhaupt zustande gekommen und welche Faktoren haben dazu beigetragen?

Hintergrund ist das Scheitern der letzten Runde der Friedensverhandlungen Ende März diesen Jahres. Damit gibt es nach 20 Jahren Oslo-Verhandlungen derzeit keine Perspektive für eine Konfliktregelung, für ein Ende der Besatzung und für palästinensische Unabhängigkeit. Zudem war Israel nicht bereit, die Bildung einer palästinensischen Konsensregierung zu akzeptieren und weiter zu verhandeln. Da kam die Entführung und Ermordung der drei Jugendlichen gelegen, um breit gegen die Hamas in der Westbank vorzugehen – und damit eine neue Runde der Eskalation zu bewirken.

Welche ausländischen Vermittler sind involviert und inwiefern können Sie zu einer Beruhigung der Situation beitragen?

Ägypten hat sich als Vermittler angeboten. Es wird wohl erst nach der Erreichung der Kriegsziele durch Israel zu einer Waffenruhe beitragen können. Zu einer dauerhaften Beruhigung der Situation wird es aber nicht kommen, wenn nicht zentrale Konfliktfelder konstruktiv angegangen werden, etwa die nahezu vollständige Abriegelung des Gaza-Streifens.

Welche Auswirkungen hat die Gaza-Operation auf das Verhältnis zwischen der israelischen Regierung und der Hamas, und auf den Friedensprozess?

Weder die israelische Regierung noch Hamas haben ein Interesse an diplomatischen Beziehungen und gegenseitiger Anerkennung – in der Vergangenheit haben aber beide gezeigt, dass sie mit einer Waffenruhe und damit einer indirekten Sicherheitskooperation sehr wohl leben können. In Israel ist zudem umstritten, was der richtige Ansatz für den Umgang mit der Hamas ist: indirekte Einbindung durch die Konsensregierung und innerpalästinensische Aussöhnung, indirekte Abmachungen, um den Status quo (ante) zu erhalten, oder Versuch der Zerschlagung der Organisation – mit der Gefahr, dass im Gaza-Streifen dschihadistische Gruppierungen das Ruder übernehmen.

Was ist das größte Hindernis am derzeitigen Friedensprozess?

Seit dem Abbruch der letzten Runde der Verhandlungen Ende März liegt der Friedensprozess auf Eis. Die Amerikaner haben angekündigt, dass sie von ihrer Seite aus erst dann wieder vermitteln wollen, wenn die Konfliktparteien sie dazu auffordern. Das wird kaum passieren, denn beide Seiten haben keine Hoffnung, dass sich ihre Ziele durch Verhandlungen erreichen lassen.

Angesichts der Krawalle innerhalb Israels in den letzten Tagen befürchtet man auch die Möglichkeit auf eine dritte Intifada („Aufstand“). Kann es nun zu dieser kommen?

Weder die palästinensische Führung in Ramallah noch ein Großteil der palästinensischen politischen Eliten haben ein Interesse an einer dritten Intifada. Auch sind viele Palästinenser skeptisch, ob sie durch eine neue Intifada ihre Ziele erreichen können. Das heißt aber nicht, dass eine dritte Intifada ausgeschlossen ist. Genauso wenig, wie ein Zusammenbruch der Palästinensischen Autorität und damit des gesamten in Oslo vereinbarten Konfliktmanagements. Damit würde es unmöglich, weiter an der Chimäre festzuhalten, dass es einen Prozess gäbe, der auf eine Zwei-Staaten-Lösung zuläuft.

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