Erdogan-Vertrauter tritt auf Demonstranten ein

Ein Mann im Anzug tritt einen am Boden liegenden Mann, während zwei Polizisten in Tarnuniformen ihn festhalten.
Ausschreitungen nach dem Grubenunglück mit 282 Toten: Der Berater des Premiers ging auf Aktivisten los.

Es ist für die türkische Öffentlichkeit wie ein Symbol für die verfehlte Politik der Regierung: Im türkischen Soma – in jenem Ort, in dem nach einem verheerenden Grubenunglück 282 tote Kumpel zu beklagen sind – liegt ein Demonstrant am Boden, zwei Polizisten treten auf ihn ein. Ein Mann im Anzug holt ebenso weit aus, um auf den am Boden liegenden zu treten: Yusuf Yerkel, einer der engsten Berater von Recep Tayyip Erdogan.

So sehr Erdogan bislang versucht hat, die sozialen Netzwerke zu unterbinden, so schnell verbreitet sich das Bild nun ebendort: "Yerkel, you Jerkel" ( Yerkel, du Idiot"), ist dort zu lesen – es steht in der Bevölkerung stellvertretend für den Umgang der Regierung mit dem Unglück. Die Aufnahme stammt von einem gemeinsamen Besuch Erdogans und Yerkels in Soma; dort war die Stimmung derart angespannt, dass der türkische Ministerpräsident unter Polizeischutz in einen Supermarkt flüchten musste. Demonstranten beschimpften ihn als "Mörder".

"Soll ich da ruhig bleiben?"

Sein Berater Yerkel verteidigt sein eigenes Verhalten: Der Mann sei ein militanter Linksradikaler, der ihn und den Ministerpräsidenten angegriffen und beleidigt habe, wird er in der Zeitung Hürriyet zitiert. „Soll ich da ruhig bleiben?“, fragt er. Gegenüber der türkischsprachigen Ausgabe von BBC kündigte Yerkel für Donnerstag eine Erklärung zu dem Vorfall an.

Kaum Hoffnung

Für die verschütteten Kumpel gibt es indessen kaum mehr Hoffnung. In den vergangenen zwölf Stunden seien aus dem Kohlebergwerk auch keine Kumpel mehr lebend geborgen worden. Die Bergungsarbeiten würden aber fortgesetzt – 787 Menschen waren in der Zeche, 80 wurden verletzt geborgen.

Die Schuld dafür geben die Demonstranten, die allerorts auf die Straßen und heute zum Generalstreik aufrufen, der Regierung: Sie kritisierten, es habe sich nicht um einen Unfall, sondern um "Mord" an den Arbeitern gehandelt. Sie fordern den Rücktritt der Regierung angesichts der Katastrophe – das Grubenunglück ist das schwerste in der Geschichte der Türkei und zugleich das schwerste weltweit seit fast 40 Jahren.

200 neue Gräber

Eine Person sitzt auf einem Erdhügel vor einer Reihe offener Gräber, während sich im Hintergrund eine Menschenmenge versammelt.

Rows of open graves for the mine accident victims …
Ein Mann steht in einem Erdloch und hält eine Spitzhacke.

TURKEY MINE EXPLOSION
Ein Mädchen weint, während ein anderes Mädchen daneben steht und einen Holzkreuz hält.

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Eine Frau liegt weinend auf einem Grabhügel.

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Eine weinende Frau wird bei einer Beerdigung von anderen Frauen getröstet, während ein Kind auf ihrem Schoß sitzt.

Women mourn during the funeral of a miner who died

Opfer des Aufschwungs

Hintergrund der Aufregung ist der Umstand, dass in den vergangenen Jahren bei der Privatisierung von Staatsunternehmen nur auf den Erlös für die Staatskasse geschielt worden sei, während die Rechte der Arbeiter außer Acht gelassen wurden, so die Kritiker. Die Gewerkschaften hätten schon lange die Missachtung von Sicherheitsvorschriften in Branchen wie dem Bergbau oder der Bauindustrie beklagt, Nachrichten über die häufigen Arbeitsunfälle wurden vom spektakulären Wirtschaftsaufschwung es Landes überlagert.

Die Tragödie wäre zu vermeiden gewesen, sagen Regierungskritiker: Erst vor zwei Wochen hatte die Regierung Erdogan im Parlament den Antrag der Opposition auf Untersuchung von Missständen in der Grube von Soma abgeschmettert (mehr dazu hier).

Trauer und Verzweiflung

Ein Bergmann mit Tränen im Gesicht umarmt eine Frau.

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Eine besorgte Menschenmenge steht vor einem Polizisten.

Relatives try to get information outside a local h…
Erschöpfte Bergleute werden von Kollegen aus einem Bergwerk geführt.

An injured miner is carried to an ambulance after
Bergleute tragen einen verletzten Mann, der in eine Decke gehüllt ist.

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Rettungskräfte bergen Verletzte nach einem Grubenunglück.

The body of miner is carried to an ambulance in So
Bergleute mit Helmen und Stirnlampen tragen eine Person durch eine Menschenmenge.

The body of miner is carried to an ambulance in So
Bergleute tragen einen verletzten Kollegen aus einem Bergwerk.

TURKEY MINE EXPLOSION
Ein Bergmann mit gelbem Helm und Gummistiefeln schaut auf sein Handy.

TURKEY MINE EXPLOSION
Ein Patient wird von Sanitätern auf einer Trage in einen Krankenwagen geschoben.

An injured miner is carried into a hospital in Som

Türkische Familien geben den Großteil ihres Geldes für Essen und Wohnen aus. Aber nicht alle kämpfen mit Geldsorgen. Luxusartikel haben Hochkonjunktur in dem Land. Seit dem Amtsantritt der Regierung Erdogan im Jahr 2003 haben sich die Einkommen um 40 Prozent erhöht - allerdings lag allein 2013 die Inflation bei 17 Prozent. Auch der Schuldenberg wuchs gigantisch.

"Jedes neugeborene Kind in der Türkei muss eine Schuldenlast von über 15.600 Lira schultern", titelte kürzlich die türkische Zeitung "Sözcü" plakativ. Im türkischen Superwahljahr 2014 steht die Erfolgsbilanz der seit mehr als einer Dekade regierenden Partei von Recep Tayyip Erdogan auf dem Prüfstand.

Schuldenlast steigt

Verschiedene türkische Lira-Banknoten liegen übereinander.
Die türkische Lira ist stark unter Druck.
Nach Angaben des Finanzministeriums hat die Türkei derzeit eine Schuldenlast von 561,5 Mrd. Dollar (416,08 Mrd. Euro) zu bewältigen. Im Vergleich zu 2002 hat sich die Verschuldung 2013 weit mehr als verdoppelt. Ein Jahr vor Antritt der regierenden AKP betrug die Verschuldung im In- und Ausland noch 221,3 Mrd. Dollar.

Die Inlandsverschuldung des türkischen Staates hat sich seit dem Jahr 2002 von 91,7 Mrd. auf 188,8 Mrd. Dollar erhöht. Die Auslandschulden betrugen 2002 129,6 Mrd. Dollar. Im Jahr 2013 wuchsen sie bis Ende September auf 372,7 Mrd. Dollar an.

Auf jedem Staatsbürger der Türkei lastet damit ein Schuldenberg von 7.323 Dollar. (2002: 3.353 Dollar). Der Verfall der Lira hat Mitte des Vorjahres mit der Ankündigung der US-Notenbank Fed, den Geldhahn für billiges Geld zuzudrehen, begonnen. Der Korruptionsskandal, der die Türkei seit Mitte Dezember 2013 erschüttert, hat sein Übriges getan, den Dollarkurs auf einen Rekord gegenüber der schwächelnden Lira zu treiben.

Der Verschuldungsgrad des einzelnen Bürgers in der Türkei ist in Folge mit 15.631 Lira auf beinahe das Dreifache gegenüber dem Vergleichszeitraum 2002 angewachsen. Für sich verbuchen kann die seit zwölf Jahren regierende Partei Erdogans hingegen, dass sich das Pro-Kopf-Einkommen der Türken in der vergangenen Dekade inflationsbereinigt um 40 Prozent erhöht hat.

Kein Geld

Für die türkischen Verbraucher haben diese ökonomischen Zahlenspiele jedoch nur wenig Bedeutung. Für sie zählt die tägliche Frustration über die Leere des eigenen Geldbeutels.

Ein hoher Anteil an den Konsumausgaben der türkischen Verbraucher entfällt auf Nahrungsmittel. Gerade für ärmere Schichten sind die massiven Preisschwankungen bei Obst, Gemüse und Grundnahrungsmitteln eine enorme Belastung. So sind etwa die Kartoffelpreise im Jänner gegenüber dem Vorjahr von über einer Lira auf bis zu 7,5 Lira pro Kilo angestiegen.

Die Preisschwankungen bei den Lebensmitteln in der Türkei sind siebenmal höher als im EU-Durchschnitt, ein Ende dieser Entwicklung ist nicht abzusehen, erläutert der Ökonom Burak Kanli die Ergebnisse einer jetzt veröffentlichten Studie der Finans Invest gegenüber der Zeitung Hürriyet.

Wohnen wird teurer

Schlechte Neuigkeiten gibt es auch für einen weiteren wichtigen Bereich im Leben der türkischen Bevölkerung. Die Teuerungswelle betrifft auch den Wohnbereich, das Herz und soziale Zentrum traditioneller türkischer Familien.

Im Sog der Entscheidung der türkischen Zentralbank - sie hat den Leitzins unerwartet aggressiv von 4,5 auf 10 Prozent hinaufgesetzt - haben die türkischen Bankinstitute nachjustiert und die Zinsen für Privatkredite innerhalb einer Woche um mehr als drei Basispunkte deutlich erhöht.

Die Zinsraten für jährliche Wohnkredite liegen damit bei 14 Prozent, für Autokredite bei 15 Prozent und für Konsumdarlehen bei 20 Prozent. So muss ein Türke jetzt für einen auf 20 Monate abgeschlossenen Wohnkredit über 100.000 türkische Lira am Ende der Laufzeit 189.216 Lira auf den Tisch legen, 18.000 Lira mehr als noch vor einer Woche. Nach Einschätzung von Bankexperten ist in der Folge heuer mit einer verringerten Kreditnachfrage zu rechnen. Auch geplante Investitionsentscheidungen könnten somit auf die lange Bank geschoben werden.

In der familiär ausgerichteten türkischen Gesellschaft, wo Singlehaushalte mit Skepsis beäugt werden, haben Kredite zur Gründung eines eigenen Haushalts Hochkonjunktur. Für Darlehen zur Ausrichtung von Hochzeiten, für Wohnungseinrichtungen oder zum Kauf eines Hauses stürzen sich türkische Familien in Schulden, aus denen sie sich jahrelang nicht herauskommen.

Mit dem rasanten Liraverfall gegenüber dem Dollar und dem Euro seit Mitte des Vorjahres sind auch die realen Gehälter und Löhne zusammengeschmolzen, während sich das Leben insgesamt empfindlich verteuert hat. Die Jahresinflation lag im Vorjahr bei 17 Prozent.

Das Existenzminimum für eine vierköpfige türkische Familie lag im heurigen Jänner nach Berechnungen der Gewerkschaft Kamu-Sen bei 3.815 Lira. Demgegenüber stehen geschätzte Ausgaben von knapp 1.500 Lira für Wohnung und Essen. Davon sind mehr als 900 Lira nur für Nahrungsmittel veranschlagt. Ein Beamter in der Türkei muss von seinem monatlichen Durchschnittsgehalt laut Gewerkschaft über 69 Prozent nur für Essen und Wohnen ausgeben.

Auch Luxus boomt

Aber nicht alle kämpfen in der Türkei mit Geldsorgen. Im Vorjahr wurden 30 Mrd. Dollar an Luxusartikeln importiert, davon über 8 Mrd. Dollar für Luxuskarossen wie Bentley, Ferrari, Porsche und Maserati. Auch der Verbrauch von Zigarren stieg rasant, seit die aktuelle Regierung Erdogan ihr Amt antrat. Im Vorjahr wurden etwa Zigarren im Wert von 505 Mio. Dollar in die Türkei eingeführt, das sind 80 Prozent mehr als noch vor zwölf Jahren. Auch der Import von Juwelen und der Konsum teurer Schokolade aus dem Ausland hat sich in den vergangenen Jahren kräftig erhöht.

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