Streikaufrufe und Proteste nach Grubenunglück
Ein defekter Trafo löste vermutlich die Explosion in 400 Meter Tiefe im Kohlebergwerk Soma aus. Zum Zeitpunkt des Unglücks befanden sich 787 Arbeiter in der Zeche. Noch während die Rettungsmannschaften am Mittwoch nach Opfern suchten und dabei ihr Leben riskierten, weil immer wieder Brände ausbrachen, begannen auf den Straßen türkischer Städte erste Protestkundgebungen. In der Hauptstadt Ankara marschierten Studenten zum Energieministerium. In Istanbul versammelten sich Demonstranten vor der Vertretung des Bergbauunternehmens Soma-Holding und sprühten mit blutroter Farbe das Wort „Mörder“ an die Wand. Auf dem Taksim-Platz von Istanbul, in dem die Protestwelle des vergangenen Jahres ihren Ausgang nahm, demonstrierte eine Gruppe junger Leute mit einem „Die-In“: Sie legten sich wie Leichen auf den Boden. Ebenfalls an die Gezi-Unruhen erinnerte die Reaktion der Polizei auf die neuen Proteste. In Ankara setzte sie Wasserwerfer und Tränengas ein.
Die Katastrophe von Soma mit mindestens 274 Todesopfern hat die Protestbewegung gegen die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan neu belebt. Skandalös und zynisch erscheint den Gegnern des Premiers das Verhalten der Regierung. In den vergangenen Jahren sei bei der Privatisierung von Staatsunternehmen nur auf den Erlös für die Staatskasse geschielt worden, während die Rechte der Arbeiter außer Acht gelassen wurden. „Lügt uns nicht an“, schrieb der regierungskritische Wirtschaftswissenschaftler Aziz Celik auf Twitter: „Die Arbeiter sind nicht vom Kohlenmonoxid getötet worden, sondern von eurer Gier nach Gewinn.“
Bisher war die Missachtung von Sicherheitsvorschriften in Branchen wie dem Bergbau oder der Bauindustrie nur von den Betroffenen und deren schwachen Gewerkschaften beklagt worden – die Nachrichten über die häufigen Arbeitsunfälle wurden vom spektakulären Wirtschaftsaufschwung des Landes überlagert.
Doch nach Soma dürfte das anders werden. In türkischen Medien waren Bilder von Lastwagen zu sehen, die mit Särgen beladen auf dem Weg zur Unglücksgrube waren – die Opposition sprach von bis zu 400 Todesopfern. Damit wäre Soma das schlimmste Arbeitsunglück in der Türkei überhaupt. Bis zu 120 Bergleute wurden fast 24 Stunden nach dem Zeitpunkt des Unglücks noch vermisst.
Unvermeidlich war die Tragödie nicht, sagen Regierungskritiker. Erst vor zwei Wochen hatte die Regierung Erdogan im Parlament den Antrag der Opposition auf Untersuchung von Missständen in der Grube von Soma abgeschmettert. Energieminister Taner Yildiz besuchte das Bergwerk im vergangenen Jahr und bescheinigte dem Unternehmen, sehr viel in die Arbeitssicherheit investiert zu haben. Kritiker fragten, weshalb Yildiz und Arbeitsminister Faruk Celik noch im Amt seien.
Streikaufrufe
Gewerkschaften riefen zu landesweiten Streiks auf, die Kurdenpartei HDP forderte einen Generalstreik aus Protest gegen die Regierung. Für den Abend war eine größere Kundgebung der Gewerkschaften im Herzen von Istanbul geplant. Anhänger der Regierung warfen der Opposition dagegen vor, das Unglück und das Leid der Betroffenen für „Provokationen“ zu missbrauchen.
Erdogan selbst traf zu Mittag in Soma ein. Vorher hatte er bereits eine dreitägige Staatstrauer ausrufen lassen und den Betroffenen sein Beileid ausgedrückt. Rund 4000 Polizisten waren im Einsatz, um etwaigen Protesten gegen den Ministerpräsidenten zu begegnen. Der Premier empörte die geschockte Bevölkerung noch mehr, als er sagte:„Solche Unfälle passieren ständig.“ In China, so der Regierungschef, seien 1960 bei einer Methangasexplosion 684 Menschen gestorben.
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