Ciao Italia, die Klügsten wandern aus
Fast täglich fragen mich Freunde und Bekannte, wie sie in Belgien einen Job finden können“, erzählt Maurizio Molinari. Der 34-jährige Italiener, der von Geburt an blind ist, lebt seit einigen Jahren in Brüssel als Journalist und Dolmetscher.
Offiziell übersiedelten 2012 über 80.000 Italiener und Italienerinnen – 50 Prozent sind unter 30 Jahre alt und 30 Prozent sind Universitätsabsolventen – ins Ausland. Laut Schätzungen dürfte die Zahl doppelt so hoch sein. Der Großteil der Auswanderer zieht nach Deutschland und Großbritannien, aber auch nach Südamerika und in die USA.
Ohne Wiederkehr
„Das Problem ist nicht, dass die jungen Leute ins Ausland gehen, sondern dass sie nicht mehr zurückkehren“, betont Soziologe Ilvo Diamanti. Italien biete für die meisten zu wenig Anreize für eine Rückkehr. Das Land verliert somit seine künftige Elite. Außerdem schreitet die Überalterung weiter voran.
Wer sich dennoch zu einer Rückkehr entschließt, sitzt meist schnell wieder auf gepackten Koffern. So wie Paola Moreno nach einem kurzen Zwischenstopp mit Projektvertrag an der Universität Padua. „Jungakademiker werden in Italien als Bürde, oft sogar als Belästigung empfunden“, beobachtet Moreno. Steuererleichterungen und höhere Gehälter alleine reichen nicht aus, dringend würden größere Transparenz, die Anwendung des Leistungsprinzips und bessere Bedingungen in der Forschung benötigt.
Brain Drain
Aufgrund der Rekordarbeitslosigkeit haben in den letzten Jahren bereits 400.000 Hochschulabsolventen Italien verlassen. Die Situation könnte sich noch verschärfen: 80 Prozent der Studenten erklärten sich laut Aire-Studie bereit, aufgrund fehlender Perspektiven nach der Uni ins Ausland zu gehen. Pro Jahr schließen 300.000 ihr Studium ab.
Die Tageszeitung Il Fatto Quotidiano hat bereits eine eigene Rubrik über „Cervelli in fuga“, „Flucht der klugen Köpfe“, gestartet. Junge Leute erzählen von ihren Erfahrungen als Meeresbiologen in Indonesien, Fotografen in Peru oder Manager in Dubai. „In Italien ist es aussichtslos, eine Stelle zu finden, die annähernd meinen Interessen entspricht“, erzählt Antonia Terranova aus Rom. Nach Praktika in Paris und Genf ist sie nun als UN-Beraterin in Tansania gelandet. „Ich fühle mich nicht wirklich auf der Flucht, da ich gerne in Italien leben möchte. Aber momentan gibt es für mich keine Zukunft und Arbeit in meiner Heimat“, bedauert Terranova.
Auswirkungen der Krise in Italien
Armut Der Anteil der Italiener, die von großer Armut betroffen sind, hat sich zwischen 2007 und 2012 von 2,4 Millionen auf 4,8 Millionen verdoppelt.
Jugendarbeitslosigkeit Sie stieg auf ein Rekordhoch: 40,4 Prozent der Italiener zwischen 15 und 24 Jahren sind laut Istat-Studie ohne Job – das ist der höchste Stand seit 1977.
Teilzeit Gewerkschaften klagen über eine „dramatische Beschäftigungs- situation“: 3,19 Millionen Italiener sind derzeit arbeitslos. 2,5 Mill- ionen Menschen werden nur noch in Teilzeit beschäftigt. Besonders schlimm ist die Lage in Süditalien.
Die Krise hat das Verkehrsverhalten geändert. Im autobegeisterten Italien steigen viele auf Fahrräder um. Erstmals seit 1953 werden mehr Fahrräder als Autos verkauft. In den vergangenen fünf Jahren hat sich die Zahl der verkauften Pkw von 2,5 Millionen auf 1,4 Millionen halbiert. Allein in diesem Jahr sollen weitere 150.000 Wagen weniger abgesetzt werden.
Vize-Verkehrsminister Erasmo D'Angelis erklärte sich bereit, alternative Formen der Mobilität zu fördern. Mit dem Tempo-Limit hofft man, die Zahl der Verkehrstoten zu senken. 3650 Personen starben 2012 in Italien bei Verkehrsunfällen, 260.500 Menschen wurden verletzt.
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