"Belarus ist das Königreich der Lügen und missbrauchter Hoffnung"

Belarus opposition leader Tikhanovsky reunites with wife in Lithuania after release
Endlich frei: der belarussische Oppositionelle Sergei Tichanowski berichtet von seinen fünf Jahren Einzelhaft in Belarus.

von Annika Meyborg

Ein großer, abgemagerter Mann betrat am Sonntag den litauischen Konferenzsaal und stellte sich ans Mikrofon. Es war Sergei Tichanowskiehemaliger Präsidentschaftskandidat in Belarus und Ehemann der Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja. Nach fünf Jahren Haft stand er an diesem Wochenende erstmals wieder öffentlich vor der Presse. Er galt, und gilt noch immer, als wichtigste Symbolfigur der belarussischen Opposition. Tichanowski wurde 2020 inhaftiert und nun, völlig überraschend, am Samstag freigelassen.

„Schaut mich an – 79 Kilogramm“, sagte der Oppositionelle gleich zu Beginn der Konferenz und drehte sich langsam in alle Richtungen. Zum Vergleich: zu Beginn seiner Haftzeit wog der 1,92 Meter große Mann rund 135 Kilogramm. 

Sergei Tichanowski ist zurück

Am Samstag wurden Tichanowski und dreizehn weitere politische Gefangene freigelassen, und nach Vilnius gebracht. Der belarussische Oppositionsaktivist wurde dort mit seiner Familie wieder vereint. Die Freilassung fiel zeitlich auf einen Besuch des Sonderbeauftragten der US-Regierung, Keith Kellogg, beim belarussischen Machthaber Aleksander Lukaschenko zusammen. 

Was den autoritären Präsidenten letztlich dazu bewegt hat, ausgerechnet seinen langjährigen Gegenspieler Tichanowski freizulassen, bleibt unklar. Der belarussische Oppositionelle selbst dankte Donald Trump in seiner Rede und auf X. 

Am Tag nach seiner Freilassung sprach Tichanowski mit der Nachrichtenagentur "Associated Press" (AP). Während des Gesprächs versuchte der belarussische Oppositionelle zu lächeln und hin und wieder zu scherzen – doch es war deutlich spürbar, wie sehr er mit der Fassung rang, als er von den Jahren in Haft erzählte.

Fünf Jahre war Tichanowski in völliger Isolation eingesperrt, die gesamte Zeit über in Einzelhaft. Er durfte weder telefonieren noch Besuch empfangen. Medizinische Versorgung wurde ihm verweigert, das Essen war spärlich. „Manchmal bekam ich nur zwei kleine Löffel Brei auf den Teller“, erzählte er im Gespräch mit der AP. Im Gefängniskiosk habe er nichts kaufen können. „Ab und zu gaben sie mir eine kleine Tube Zahnpasta oder ein Stück Seife – aber ich wusste nie, was ich wann bekomme, oder ob überhaupt.“

Seine Einschätzung war klar: „Das ist definitiv Folter.“ Wachleute hätten ihm regelmäßig gesagt, dass er das Gefängnis nie wieder verlassen werde. Immer wieder habe er den Satz gehört: „Du wirst hier sterben.“

In der Einzelhaft, so Tichanowski, habe er fast verlernt zu sprechen. Doch an diesem Sonntag, einen Tag nach seiner überraschenden Freilassung, stand er wieder vor Publikum – in einem Konferenzsaal in Vilnius. Sichtlich nervös, aber entschlossen, ballte er am Rednerpult die Faust in die Luft und richtete sich mit bewegenden Worten an seine Landsleute: 

„An alle Belarussen: Wenn ihr auf ein Zeichen wartet – hier ist euer Zeichen.“

Der einstige Präsidentschaftskandidat wirkte angespannt, besonders die Erinnerung an seine Festnahme ließ ihn stocken. „Ich war wie jemand, der draußen nur den Regenbogen bewundern wollte, und dann vom Blitz getroffen wurde“, sagte er mit zitternder Stimme.

Tichanowski erzählte, dass der schwerste Moment nach seiner Freilassung das Wiedersehen mit seinen Kindern gewesen sei. Während er darüber sprach, konnte er die Tränen nicht zurückhalten. "Sie standen vor mir, und erkannten mich nicht", so der Oppositionelle. Sie hätten ihn nur angesehen, wie einen Fremden. 

Belarus opposition figure Syarhei Tsikhanouski in Vilnius

Tichanowski und Tichanowskaja im Gespräch in Vilnius

Der Kampf gegen Lukaschenko

Der Oppositionelle bezeichnete Belarus als ein „Königreich der Lügen“. Viele Menschen glaubten diese Lügen; gerade deshalb sehe er es als seine Pflicht, sich dagegen zu stellen und die Wahrheit ans Licht zu bringen.

Besonders eindrücklich sprach er über den Zustand der Gerechtigkeit: Sie sei „noch nicht tot, aber habe ein Loch im Kopf“. In seinen Augen sei es ungerechter als alles andere, einfach nichts zu tun. Er kritisierte jene, die nur zusähen und sich abwendeten, statt zu handeln. „Die grausamsten Taten waren nicht wirklich die grausamsten, sondern die Gleichgültigkeit und das Abwenden“, sagte er mit belegter Stimme.

„Das Regime ist brutal"

Tichanowskis Schilderung seines Lebens im Gefängnis, oder vielmehr seines nackten Überlebens unter entwürdigenden Bedingungen, legte ein erschütterndes Zeugnis für die Brutalität des Lukaschenko-Regimes dar. 

Er sei überzeugt, dass seine Freilassung Teil eines zynischen politischen Schauspiels war. Während Mitgefangene starben oder gebrochen entlassen wurden, inszeniere sich Lukaschenko öffentlich als „großzügiger Menschenfreund", so Tichanowski. 

Damit spielte Tichanowski auf diejenigen an, die weiterhin Geiseln des Lukaschenko-Regimes sind. Der kommende Monat sei entscheidend, so Tichanowski. Er berichtete von Insiderinformationen, nach denen alle politischen Gefangenen freigelassen werden könnten. All das, so Tichanowski, sei Teil des Kalküls eines Diktators, der seine politischen Gefangenen wie Verhandlungsware behandele: Menschenleben als Pfand, um möglichst hohe Zugeständnisse vom Westen zu erpressen. Sein Ziel: die Aufhebung der Sanktionen gegen Belarus.

Das Regime inszeniere die Freilassungen als scheinbar großzügige Geste, als Zeichen vermeintlichen Entgegenkommens gegenüber dem Westen. Doch hinter der Fassade stecke Strategie. Tichanowski berichtete, seine Freilassung sei gezielt vorbereitet worden. So habe man ihn für einen Monat zwangsernährt, damit er vor Kameras möglichst "gesund" erscheine. 

Belarus opposition figure Syarhei Tsikhanouski in Vilnius

Sergei Tichanowski brach bei der Pressekonferenz in Tränen aus

Hinter Belarussischen Gittern

Nach der Abstimmung im August 2020 strömten Zehntausende Menschen auf die Straßen. Es gab Tausende Festnahmen und Hunderte Verletzte. Prominente Oppositionsführer wurden entweder inhaftiert oder flohen aus Belarus.

Die Menschenrechtsgruppe "Viasna" berichtete, dass immer noch über 1.000 politische Gefangene in Haft seien. Unter ihnen ist Friedensnobelpreisträger Ales Bialiatski und die Musikerin Maria Kalesnikowa.

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