Barroso droht Schweiz erste Konsequenzen an

Nach der eidgenössischen Abstimmung reagiert die EU - "im Sinne der Gegenseitigkeit".

Nach der ersten Schockstarre - die Schweiz hatte am Sonntag wider Erwarten für die Wiedereinführung von Zuwanderer-Kontingenten gestimmt - reagiert die Europäische Union: Die Kommission droht nun mit ernsten Konsequenzen, sollten die Eidgenossen die Zuwanderung (von EU-Bürgern) tatsächlich wieder begrenzen. "Im Sinne der Gegenseitigkeit ist es nicht richtig, dass Schweizer Bürger die unbeschränkte Personenfreizügigkeit in der Europäischen Union haben", sagte Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso in einem am Mittwoch veröffentlichten Reuters-Interview. Damit deutete der Kommissionschef an, dass Schweizer künftig nicht mehr ohne weiteres in EU-Ländern wohnen und arbeiten könnten. Konkrete Strafmaßnahmen nannte er aber nicht. "Es ist unfair, dass ein Land alle Vorteile hat und seinen Partnern nicht dieselben Vorteile gewähren will", betonte der Politiker.

Die Regierung in Bern muss die vage gehaltene Initiative der rechtskonservativen Schweizer Volkspartei innerhalb von drei Jahren umsetzen und dabei die Einzelheiten festlegen. Um das Votum abzuschwächen, wird bereits darüber diskutiert, nach einer bestimmten Zeit eine weitere Abstimmung abzuhalten - und darauf zu hoffen, dass sich die Schweizer umentscheiden. Nach der Volksabstimmung ist vor der Volksabstimmung - ein geflügeltes Wort in der Schweiz.

Der Schweizer Bundesrat ist am Mittwoch zu einer ersten Aussprache zur Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative zusammengekommen. Zwar fielen dabei keine konkreten Entscheidungen, jedoch legte die Regierung das weitere Vorgehen und einen Zeitplan für die Umsetzung fest. Bis Ende des Jahres soll ein Gesetzesentwurf vorliegen.

Viel auf dem Spiel

Barroso sagte, die Schweiz sei zwar für die Europäische Union wichtig. Doch das Land habe ein größeres Interesse, freien Zugang zum EU-Markt zu bekommen als umgekehrt. "Wir haben der Schweiz eine Stellung gegeben, die kein anderes Land der Welt genießt." Es sei Sache der Regierung, das Referendum so umzusetzen, dass die Verträge mit der Union eingehalten würden. Die Personenfreizügigkeit ist nur ein Abkommen eines ganzen Paketes, das zwischen der Schweiz und der EU geschnürt wurde und nun insgesamt zur Disposition steht ("Guillotine-Klausel": fällt eine Bestimmung, fallen alle). Darin geht es etwa um Produktzulassungen, Ausschreibungen oder die Öffnung von Straßen- und Schienenmärkten.

Als Reaktion auf das Abstimmungsresultat hat die EU die Verhandlungen über das Stromabkommen auf Eis gelegt, das Forschungsabkommen "Horizon 2020" könnte folgen.

Eine Infografik zur Volksabstimmung über die Einschränkung der Zuwanderung in der Schweiz.
Karte Schweiz, Ergebnis nach Kantonen; Bevölkerung und Ausländeranteil; Netto-Zuwanderung 2005-2012 - Kurvengrafik; Bilateraler Handel mit der EU Grafik 0169-14-Schweiz.ai, Format 134 x 144 mm
Schweizer Unternehmensverbände und die meisten politischen Parteien waren gegen die Initiative, weil sie wirtschaftliche Nachteile befürchten. Unter den Wählern war die Initiative umstritten: Während sie vor allem in der französischsprachigen Westschweiz abgelehnt wurde, stimmte die Deutschschweiz und das italienischsprachige Tessin dafür. Die Ablehnung war in Großstädten höher als auf dem Land.

Die rote Linie

Auch der EU-Botschafter in der Schweiz, Richard Jones, hat sich erstmals geäußert. Und auch er lässt keine Zweifel offen: Die EU wird Kontingente ablehnen. Den Zugang für Schweizer Unternehmen zum EU-Markt sieht er deshalb in Gefahr. Jones macht der Schweizer Politik in Interviews mit mehreren Medien keine großen Hoffnungen für Verhandlungen. "Kontingente sind für uns kein Thema, Verhandlungen darüber werden sehr kurz ausfallen", sagte er Tagesanzeiger.ch/Newsnet. Die Personenfreizügigkeit sei ein Grundprinzip und für die EU deshalb eine "rote Linie".

Über technische Details bei der Umsetzung lasse die EU mit sich reden. "Natürlich werden wir uns jede fantasievolle Idee genau ansehen", sagte er Radio SRF. Aber: "Kontingente sind vom Tisch." Nach dem Volksentscheid sieht Jones allgemein einen "riesigen Teil der Last" bei der Suche für eine Lösung auf Schweizer Seite.

Rückenwind aus London

Unterstützung erhalten die Schweizer - wie in Brüssel zuvor befürchtet - prompt von den EU-kritischen Briten: Die Regierung spricht sich dafür aus, die Niederlassungsfreiheit in Europa generell klarer zu definieren. Die Kommission in Brüssel und der Europäische Gerichtshof legten die EU-Verträge in der Frage zu breit aus, klagte der britische EU-Minister David Lidington am Mittwoch bei einem Wien-Besuch. Wie Deutschland will auch Großbritannien Sozialtourismus bekämpfen. Die EU-Verträge gäben Bürgern das Recht, in einem anderen Land Arbeit zu suchen, sagte Lidington. "Aber das ist kein uneingeschränktes Recht - kein Recht fortzuziehen, nur um Zugang zu Sozialgeldern und öffentlichen Diensten zu erlangen." Diese Unterscheidung müsse auf EU-Ebene eingehalten werden. Es gebe in Großbritannien kaum öffentliche Zustimmung dafür, wenn Menschen "unkontrolliert" zuwanderten. Die britische Regierung prüfe darum streng die Ansprüche von Einwanderern auf Sozialleistungen, da die Sozialausgaben "außer Kontrolle geraten" seien. Lidington warb im Gespräch um Verständnis für die Entscheidung der Schweizer. "Ich glaube nicht, dass es hilft, wenn jemand Wählern Beleidigungen entgegenwirft – das funktioniert nicht, auch dann, wenn man ein Wahlergebnis nicht mag". Mit Blick auf das Schweizer Referendum verteidigte der Minister auch die Entscheidung seines Premiers David Cameron, bis 2017 eine Volksabstimmung über den Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union abzuhalten. "Ein Referendum wird die Frage für Generationen klären", sagte Lidington.

Das Schweizer Votum gegen "Massenzuwanderung" ist Wasser auf die Mühlen von FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache. Er will nun auch für Österreich eine Volksabstimmung über Zuwanderung.

Strache warnt die Regierung und die EU, das Schweizer Plebiszit ernst zu nehmen, und er will auch nicht, dass den Eidgenossen "Sanktionen" angedroht werden. "Die unbegrenzte Massenzuwanderung einbremsen zu wollen, ist sicher kein Debakel für die Schweiz", richtet Strache den Kritikern des Volksbegehrens aus. "Seit wann ist Massenzuwanderung ein europäischer Grundwert?", fragt er demonstrativ.

Rechtspopulismus

Ein Mann spricht vor einem Hintergrund mit der Aufschrift „EU!“.
APA16383982 - 10012014 - WIEN - ÖSTERREICH: FPÖ Parteichef Heinz-Christian Strache während der Pressekonferenz anl. zum Thema "Präsentation der FP-Kandidaten für die EU- Wahl" am Freitag, 10. Jänner 2014, in Wien. APA-FOTO: HERBERT PFARRHOFER
"Es braut sich was zusammen in Europa. Fremdenfeindliche Tendenzen werden zunehmen, der Rechtspopulismus wird gestärkt", bestätigt Markus Jachtenfuchs, Professor für Europa- und internationale Politik an der Berliner Hertie School of Governance. "Es wird ein EU-Wahlkampf mit starker Forderung nach mehr direkter Demokratie. Der Ruf, das Volk zu befragen, wenn es bestimmten Absichten dient, wird lauter. Die Schweiz gilt jetzt als Erfolgsmodell", erklärt der Politologe dem KURIER.

Auf Österreich bezogen geht Wolfgang Bachmayer vom OGM-Meinungsforschungsinstitut davon aus, dass die FPÖ, die ohnedies ein Monopol auf die Themen Migration und Zuwanderung hat, im Wahlkampf mit direkter Demokratie punkten will. "Damit kann sie auch breitere Wählerschichten ansprechen." Das könnte umso eher gelingen, als die Österreicher sehr EU-kritisch sind, skizziert Bachmayer.

Zuspitzung

Ein Plakat mit der Aufschrift „Masslosigkeit schadet! Masseneinwanderung stoppen JA“.
epa04050981 A file picture made available on 01 February 2014 shows an election poster against the 'initiative against mass immigration' reading 'Excess harms - Stop mass immigration' in Winterthur, Switzerland, 08 January 2014. Swiss citizens on 09 February 2014 willl vote on an initiative against mass immigration brought forward by the rightwing Swiss Peopleís Party SVP, a proposal to reintroduce immigration quotas. EPA/STEFFEN SCHMIDT
Politologe Fritz Plasser ist überzeugt davon, dass es im Wahlkampf "eine härtere thematische Zuspitzung" auf Fragen der Migration, Zuwanderung und des freien Personenverkehrs geben wird. Quer durch alle Parteien könnten sich Bürger mit der FPÖ-Argumentation identifizieren.

Die Frage ist, welche Strategie etablierte pro-europäische Parteien gegen den populistischen Trend haben. Plasser nennt ein Rezept: "Den Ball aufnehmen, Probleme nicht kleinreden und die Schweiz nicht als Sonderfall hinstellen. Die Öffentlichkeit sieht das nicht so."

Der Universitätsprofessor empfiehlt, "nicht reflexhaft alle EU-Gesetze zu verteidigen. Das hört man von den politischen Eliten zu oft, das ist keine Kommunikationsstrategie." Es gelte aufzuzeigen, dass "Europa imstande ist, Alltagsprobleme zu lösen".

Einig sind sich alle Experten, dass rechtspopulistische Parteien bei den EU-Wahlen zulegen werden. Bis zu 27 Prozent populistische, rechtsradikale, EU-feindliche Abgeordnete könnte das neue Parlament zählen, veröffentlichte kürzlich die Forschungsabteilung der Deutschen Bank. Derzeit liegt der Anteil rechtspopulistischer und EU-ablehnender Abgeordneter bei rund acht Prozent von 766 Abgeordneten.

Furchtloser Karas

In Brüssel wandte sich am Dienstag der Spitzenkandidat der ÖVP, Othmar Karas strikt gegen Abstimmungen über Zuwanderung. Zwar sei damit zu rechnen, dass euroskeptische und nationalistische Parteien bei der Wahl zulegen würden, aber: "Ich fürchte mich nicht vor den Rechten", sagt Karas. "Sie werden stärker werden, aber sie werden nicht mehr Einfluss haben."

Sind die in der Schweiz lebenden Österreicher aufgeschreckt nach dem "Ja" der Eidgenossen zur Zuwanderungsbeschränkung? Immerhin 60.000 leben und arbeiten in der Schweiz (20.000 als Doppelstaatsbürger), 8100 pendeln ein- bis mehrmals pro Woche in die Schweiz. Die österreichische Botschaft in Bern bestätigt dem KURIER "ein paar Dutzend" Anfragen in den ersten beiden Tagen nach der Abstimmung – vor allem von den meist aus Vorarlberg stammenden Grenzgängern.

Porträt eines lächelnden Mannes vor einem Kia-Werbebanner.
Heinz Riedmann
Heinz Riedmann ist einer dieser Pendler, und er war nicht unter den Anrufern. Denn der 54-Jährige Vorarlberger ist gelassen: "Überhaupt nichts wird sich ändern." Auch wenn ihn die Abstimmung doch überrascht hat: "Die Stimmung in der Schweiz hat bis zuletzt kein Ja zur Zuwanderungsbegrenzung erwarten lassen", sagt Riedmann, der seit drei Jahren einen Schleifbetrieb für Industriemesser in St. Gallen besitzt. Doch als sich Ex-Aussenministerin Micheline Calmy-Rey von den Sozialdemokraten kurz vor dem Votum für einen EU-Beitritt der Schweiz einsetzte, sei die Stimmung offenbar zum Ja gekippt – mit dem denkbar knappen Vorsprung von 19.516 Stimmen. Auch die Schweizer Medien spekulieren, ob die Ex-Außenministerin der SVP-Initiative letztlich nicht zum Durchbruch verholfen hat.

Die Schweiz habe der EU das Zeichen gesetzt, "so geht’s nicht", sagt Riedmann. Aber er glaubt wie viele Pendler, die er kennt, dass die Schweizer letztlich so tolerant seien, dass es zu keiner Verschärfung der Situation für EU-Ausländer kommen werde. "Da gibt es ja eine Hintertür: Die Abstimmung ist nicht total bindend, sondern jetzt muss sich die Regierung damit befassen und verhandeln." Und das könnte auch so aussehen, dass Kontingente für Ausländer so hoch angesetzt werden, dass es die, die kommen wollen, nicht betrifft. "Die Wogen sind im Moment sehr hoch, aber die Zeit heilt alle Wunden."

Ein lächelnder Mann mit lockigem, grau meliertem Haar vor einem grauen Hintergrund.
Ähnlich entspannt sieht es auch der Medienforscher Michael Latzer. Der Österreicher lehrt an der Uni Zürich und erlebt dort, aber auch in seinem privaten Alltag ein "weltoffenes Land. Das ist ja ein Teil des Erfolges der Schweiz." Gerade gegenüber Österreichern seien die Vorbehalte eher gering.

"Die Ängste in der Bevölkerung sind aber nicht differenziert, sondern richten sich pauschal gegen Ausländer." Und diese Ängste, betont Latzer, seien in den letzten Jahren zu wenig ernst genommen worden: "Die Zuwanderung hier war ja in den letzten zehn Jahren geballt, und das in allen Berufsgruppen und Bildungsschichten, egal ob Arbeiter, Wissenschaftler oder Manager." Über das Ergebnis herrsche zwar jetzt Betroffenheit, tatsächlich aber sei das nur der erste Schritt eines langen Prozesses, bei dem immer wieder das Volk befragt werde. Latzer setzt auf die Schweizer Tradition der Aufklärung, "hier legt man wirklich viel Wert auf Vermittlung von politischen Inhalten. Politische Entscheidungen werden hier in aller Breite diskutiert."

Weniger weltoffen als die Österreicher seien die Schweizer auf keinen Fall. "In Österreich würde man sich ja gar nicht trauen, den Weg einer solchen Volksbefragung zu gehen", schätzt Latzer die Haltung seiner Landsleute ziemlich kritisch ein, "und wenn, dann möchte ich gar nicht wissen, wie das ausgehen würde."

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