Massenzuwanderung: Schock über Schweizer Mauer

"Es ist nicht möglich, einzelne Rosinen rauszupicken", so Außenminister Kurz zur Schweiz.
Nach dem "Ja" der Eidgenossen zur Beschränkung der Zuwanderung, vor allem aus Europa, macht die EU deutlich: Die Teilnahme am EU-Binnenmarkt ist kein Wunschkonzert. EU-Kritiker von Wien bis London jubilieren dagegen.

Das „Ja“ der Schweiz zur Beschränkung der „Massenzuwanderung“ schmeckt den EU-Politikern nicht – das war die klare Botschaft der ersten Reaktionen, die vielfach die Form kulinarischer Vergleiche annahmen: „Der EU-Binnenmarkt ist kein Schweizer Käse, er funktioniert nicht, wenn er Löcher hat“, sagte EU-Justizkommissarin Viviane Reding. „Die Grundrechte der EU sind kein Running Sushi, bei dem man sich einfach herausnimmt, was einem gerade schmeckt“, sagte Othmar Karas, ÖVP-Delegationsleiter im EU-Parlament und dessen Vizepräsident. „Es ist nicht möglich, einzelne Rosinen rauszupicken“, sagte Außenminister Sebastian Kurz.

Ärger und Ratlosigkeit

Die Stimmungslage in Brüssel am Tag nach dem Schweizer Volksentscheid lag zwischen Ärger und Ratlosigkeit. Ärger darüber, dass von einem langjährigen, engen Partner nun eine Grundfreiheit in Frage gestellt wird, von der – so die Brüsseler Sicht – beide Seiten nicht nur wirtschaftlich profitieren. Ratlosigkeit darüber, wie es jetzt weitergeht.

Wird die Schweizer Regierung ernst machen und eine Ausländer-Quote einführen? Soll sich die EU in diesem Fall auf eine Neuverhandlung der Personenfreizügigkeit und anderer Abkommen einlassen? Oder darf bzw. muss man vielleicht sogar auf stur schalten, die Schweiz damit vor die harte Wahl stellen, das Abkommen nicht anzutasten oder zu kündigen – in der Hoffnung, das Problem würde innerschweizerisch gelöst werden, etwa mit einer nochmaligen Abstimmung?

"Ball liegt bei Schweiz"

In der EU-Kommission wollte man am Montag noch nicht über mögliche Konsequenzen sprechen: „Der Ball liegt jetzt bei der Schweiz“, sagte eine Sprecherin von Kommissionspräsident Barroso. Deutlicher wurden da schon die Außenminister, die gestern zu einem (routinemäßigen) Ratstreffen nach Brüssel kamen. Der luxemburgische Vertreter Jean Asselborn sagte, die EU habe der Schweiz als Gegenleistung für die Freizügigkeit einen privilegierten Zugang zum Binnenmarkt angeboten: „Wenn das eine fällt, fällt natürlich auch das andere.“ So sieht das auch Kurz: Mit dem Infragestellen der Personenfreizügigkeit „gefährdet die Schweiz natürlich das gesamte Vertragswerk mit der EU“. „Jedes Votum gehört akzeptiert, aber es bringt auch einige Probleme mit sich“, so Kurz, „für die EU und für die Schweiz.“

Verständnis für das Votum zeigte der britische Premier David Cameron: Es zeige die „wachsende Sorge“ über die Personenfreizügigkeit in der EU. Camerons Regierung hat in den vergangenen Monaten in Brüssel deponiert, man wolle den Zuzug von EU-Ausländern wieder beschränken dürfen, da es eine Einwanderung ins britische Sozialsystem gebe.

Die deutsche Regierung zeigte sich hingegen beunruhigt vom Volksentscheid: Das Ergebnis werfe „erhebliche Probleme“ auf, sagte der Sprecher von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Deutschland habe großes Interesse, dass das Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU „so eng wie möglich“ bleibe, um sich im globalen Wettbewerb zu behaupten.

Jubel bei den Rechten

Positive Reaktionen auf das Abstimmungsergebnis gab es nur von den europäischen Rechten. „Fantastisch“ nannte der niederländische Rechtspopulist Geert Wilders das Resultat. Marine Le Pen, Vorsitzende der rechtspopulistischen Front National, twitterte: „Die Schweiz sagt Nein zur Masseneinwanderung, bravo! Wird die EU nun Panzer schicken?“ Und Nigel Farage, Chef der UKIP, die für Großbritanniens Austritt aus der EU eintritt, nannte das Votum „wundervolle Neuigkeit für die nationale Souveränität“.

Die Briten werden genau beobachten, ob und wie weit die EU der Schweiz nachgibt: Sollten sie bei dem geplanten Referendum über die EU-Mitgliedschaft, das spätestens 2017 stattfinden soll, für den Austritt aus der Union votieren, müsste die Regierung mit Brüssel einiges neu verhandeln – so wie die Schweiz, sollte sie die Personenfreizügigkeit kippen. Das werden auch die EU-Spitzen im Hinterkopf haben – und den Schweizern schon aus diesem Grund möglichst wenig entgegen kommen wollen.

Was genau wird durch die Personenfreizügigkeit in der EU geregelt?

Neben dem freien Warenverkehr, dem freien Kapital- und Zahlungsverkehr sowie der Dienstleistungsfreiheit ist die Personenfreizügigkeit eine der vier Grundfreiheiten der EU. Sie regelt, dass EU-Bürger frei wählen dürfen, in welchem Staat der Union sie leben wollen. Drei Monate lang darf sich jeder ohne Bedingungen in einem anderen EU-Land aufhalten; danach kann jeder Staat gewisse Hürden aufstellen, z. B. die Aufenthaltsgenehmigung an Arbeit oder Vermögen knüpfen. Wer einen Job hat, darf aber auf jeden Fall im EU-Ausland leben – und auch seine direkten Angehörigen mitnehmen. Nach fünf Jahren dauerhaften und rechtmäßigen Aufenthalts darf man dann auf Dauer bleiben – ohne die Bedingungen, die vorher galten.

Wie ist das zwischen der EU und der Schweiz geregelt?

1999 wurde nach jahrelangen Verhandlungen ein Abkommen zwischen der Schweiz und der EU geschlossen, das die Personenfreizügigkeit, die innerhalb der EU gilt, auf die Schweiz ausdehnte. In der Praxis gilt: Wer in die Schweiz ziehen will, muss entweder einen Job haben – oder über genug Vermögen verfügen, dass er sich selbst erhalten kann und dem Staat nicht auf der Tasche liegt. Seit Juni 2002 gilt das Abkommen für die damals 15 EU-Mitgliedsstaaten. Bei den folgenden EU-Erweiterungen wurde es ergänzt, für Bürger Bulgariens und Rumäniens gelten bis 2016 Beschränkungen. Für Menschen aus Kroatien, das im Juli als 28. Land der EU beitrat, heißt es „bitte warten“: Die Schweiz hat die Personenfreizügigkeit für Kroatien noch nicht ratifiziert.

Kann die Schweiz das Abkommen jetzt einfach so einseitig kündigen?

Ja, aber: 1999 wurden zwischen der Schweiz und der EU insgesamt sieben Verträge abgeschlossen – neben der Personenfreizügigkeit unter anderem auch zu Produktzulassung, Landwirtschaft, Forschung und Verkehr. Die sieben Verträge sind durch eine „Guillotine-Klausel“ verknüpft, das heißt: Es gelten entweder alle – oder keiner gilt.

Wie wird dieser Domino-Effekt innerhalb der EU gesehen?

In Brüssel hat man in den vergangenen Jahren nicht nur der Schweiz gegenüber klargemacht, dass es kein „Rosinenpicken“ geben kann. Im Klartext: Kündigt die Schweiz also das Abkommen zur Personenfreizügigkeit, verliert sie ihren weitgehenden Zugang zum EU-Binnenmarkt. Und das könnte für die Schweizer Wirtschaft ein großer Wettbewerbsnachteil werden: 60 Prozent ihres Außenhandels betreibt die Schweiz mit der Europäischen Union.

Ist ein Kompromiss denkbar, mit dem die Schweiz die Zuwanderung begrenzen kann, ohne dass alle Abkommen gekündigt (und neu verhandelt) werden müssen?

Mit der Volksinitiative wurde die Schweizer Regierung beauftragt, binnen drei Jahren ein neues Zuwanderungsgesetz mit Quoten zu erlassen. Möglich wäre, dass die Quoten für EU-Ausländer relativ hoch angesetzt werden – sodass in der Praxis niemand daran gehindert wird, unter den selben Bedingungen wie bisher in die Schweiz zu ziehen. Das würde zwar streng genommen trotzdem der Personenfreizügigkeit widersprechen, doch es wäre denkbar, dass die EU diese Quoten akzeptiert, bevor man sich wieder in jahrelange Verhandlungen mit der Schweiz begibt. Schon jetzt gibt es in den Verträgen eine „Ventilklausel“, quasi eine „Notfallklausel“ für den Fall, dass der Zuzug aus der EU in die Schweiz zu massiv wird. Diese Klausel läuft jedoch spätestens im Mai 2014 aus; im Vorjahr wurde sie erstmals für alle EU-Staaten aktiviert.

Das heißt, der Zuzug aus der EU war schon in den letzten Jahren „massiv“?

Er war zumindest um ein Vielfaches größer, als die Schweizer Regierung bei Abschluss des Abkommens vor 15 Jahren erwartet hat. Seit 2002 haben sich jährlich rund 80.000 EU-Bürger in der Schweiz niedergelassen – zehn Mal so viel wie prognostiziert worden war. 2013 lebten in der Schweiz 1,9 Millionen Ausländer (1,25 davon aus der EU) – ein Anteil von 23,5 Prozent an der Gesamtbevölkerung von acht Millionen. Zum Vergleich: In Österreich leben rund 11,6 Prozent Ausländer. Italiener und Deutsche machen in mit jeweils knapp 300.000 Menschen die größten ausländischen Gruppen aus, Österreicher gibt es in der Schweiz rund 40.000.

Welche Rolle spielen die Ausländer am Schweizer Arbeitsmarkt?

Eine zentrale. Die Arbeitslosigkeit in der Schweiz ist mit 3,5 Prozent sehr niedrig (Österreich ist mit 4,9 Prozent EU-Bester). Fachkräfte werden in vielen Branchen gebraucht. In manchen Regionen, wie dem Tessin, das an Italien grenzt, gibt es aber Klagen, dass die Schweizer nicht mit den billigeren Ausländern konkurrieren können. Armutszuwanderung aus der EU in die Schweiz gibt es aber nicht – die Ausländer zahlen pro Kopf und Jahr rund 15.000 Euro mehr Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen, als sie Sozialleistungen beanspruchen.

„Früher haben die Schweizer die wirtschaftlichen Vorteile (der EU-Integration samt Zuwanderung) immer höher gewichtet, als die gesellschaftlichen Nachteile“, erklärt der Wahlforscher Claude Longchamp vom Institut Bern. Diesmal ist es aber anders. Teuerungen im Wohnbereich, vollgestopfte Autobahnen und öffentliche Verkehrsmittel verursachen Unbehagen. Zudem kommt die Angst der Schweizer vor dem Verlust der eigenen Identität: Knapp 80.000 Menschen wandern pro Jahr zu, der Ausländeranteil beträgt beinahe 25 Prozent.

Die Meinung der Menschen ist gespalten, wie das äußert knappe Ergebnis zeigt. Der deutschsprachige Teil der Schweiz hat überwiegen für die Zuwanderungsbegrenzung gestimmt, der frankophone Teil dagegen. Ein weiterer Unterschied ist zwischen städtischen und ländlichen Regionen erkennbar: Während in den Ballungsräumen der größere Teil gegen die Zuwanderungsbegrenzung gestimmt hat, gab es am Land mehrheitlich Befürwortung.

„ Zu wenig erklärt“

Franziska B., 28, findet das Gesamtergebnis gut: „Wie viele Schweizer haben keinen Job, wie viele sitzen auf der Straße?“ Über mögliche wirtschaftliche Folgen hat sie sich noch keine Gedanken gemacht. Die Pensionistin Johanna S. sieht die Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und der EU als nötig für die Wirtschaft. „Die Schweiz isoliert sich immer mehr“, sagt sie. Und weiter: „Die Regierung hat den Menschen zu wenig erklärt, worüber es bei der Abstimmung wirklich geht. Regelungen gab es schon vorher, man ließ ausschließlich anständige Personen in das Land. Daran ist doch nichts auszusetzen.“

Die Volksbefragung, die von der rechtspopulistische Partei SVP angeregt worden war, hatte ihre Befürworter nicht nur von rechten Wählern. Mit Ja stimmten auch Kreise, die nicht zum klassischen SVP-Klientel zählen.

Aus diesem Grund glaubt Jürg Ackermann, Journalist beim St. Galler Tagblatt, nicht, dass Ausländerfeindlichkeit das Ergebnis bestimmte: „Es ist schwierig abzuschätzen, meiner Meinung nach gibt es in der Schweiz nicht mehr Ausländerfeindlichkeit als in anderen Ländern. Nur das Unbehagen gegenüber den Zuwanderern ist größer, als es sich die Politiker gedacht haben. Den Schweizern geht es gut, damit gehen Verlustängste einher.“

Auch Dieter Freiburghaus ist der Meinung, die Schweizer hätten Angst um ihren Wohlstand. Je länger dieser andauere, desto mehr steige die Angst, ihn zu verlieren. „Wir sind im Herzen Bauern geblieben“, so der Politologe zum Schweizer Tagesanzeiger, „wird eine Ernte groß, fürchtet der Bauer, dass die nächste vom Hagel zerstört wird. Diese bäuerliche Skepsis gegenüber dem eigenen Wohlergehen passt schon in unsere Mentalität.“

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