Ausgerechnet England wünscht sich eine Reichensteuer

Schwarze Jogginghose, lockerer Kapuzenpullover, legerer Parker. Als Gary Stevenson Dienstagabend im Londoner Regierungsviertel zum Mikrofon griff, bildete er den größtmöglichen Kontrast zur elitären Umgebung. Doch der Ex-Börsenmakler, dem auf YouTube eine Million Menschen folgen, setzt bewusst auf Distanz zu den Politikern.
„Hört zu“, begann er dann, so wie viele seiner Reden auf Social Media beginnen: „Wir dürfen das nicht zu einem Links-gegen-Rechts-Thema machen lassen… Wir können nur gewinnen, wenn unsere Sache größer ist als das.“ Sein Anliegen: die Einführung einer Vermögenssteuer.
Damit ist der Ökonom nicht länger alleine.

In Großbritannien, einem Land, das freie Marktwirtschaft wie kaum ein anderes feiert, werden Rufe nach einem stärker einschreitenden Staat laut. Ebenfalls am Dienstag wurde auch noch eine YouGov-Analyse veröffentlicht: 77 Prozent der Briten würden es vorziehen, wenn die Regierung die Steuern für die Reichsten erhöhen würde, anstatt die öffentlichen Ausgaben zu kürzen, um die Staatsfinanzen zu verbessern.
Nicht nur Aktivisten machen sich mittlerweile für das Thema stark. Der Labour-Abgeordnete für Bradford East, Imran Hussain, erinnerte zu Wochenbeginn im Telegraph & Argus: „Die reichsten 50 Familien des Landes besitzen mehr als die Hälfte des gesamten Vermögens im Vereinigten Königreich.“
Und schon im Herbst haben sich zwölf Labour-Abgeordnete der parteiübergreifenden Forderung nach einer Steuer auf „extremes Vermögen“ angeschlossen. Eine Steuer in der Höhe von 2 Prozent für jene, die 10 Millionen Pfund (12 Mio. Euro) oder mehr besitzen, könnte im Jahr 24 Milliard Pfund (29 Mill. Eur) pro Jahr einbringen.
Corona als Katalysator
Doch wieso gewinnt die Bewegung jetzt an Fahrt? Für Stephen Hunsaker vom Think Tank „UK in a Changing Europe“ war Corona der Katalysator: „Die Pandemie hat die Aufmerksamkeit auf die wachsende Kluft zwischen den Wohlhabenden und dem Rest der Gesellschaft gelenkt und die Diskussion darüber verstärkt, wie die Regierungen diese Ungleichheit beseitigen können.“

Denn 42 Prozent der arbeitenden Gesellschaft verdienen nicht genug zum Leben; jeder vierte hat weniger als 600 Euro Erspartes. Die Maßnahmen der Labourpartei erhöhen den Druck bei einigen zudem noch: Die Erhöhung der Sozialversicherungsabgaben, die Arbeitgebern aufgebrummt wurde, bekamen auch viele Arbeitnehmer zu spüren. Mit Sorge verfolgten viele Briten die Ankündigung weiterer Kürzungen im Sozialbereich am Mittwoch.
Noch, weiß Gary Stevenson, ist die kritische Masse nicht erreicht. Und so entließ er seine Unterstützer mit einem Auftrag: „Sprecht mit eurer Familie. Mit euren Kollegen. Beim Fußball. Im Pub.“
Anna-Maria Bauer, London
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