350 Jahre Greenwich: Wie London zum Nabel der Zeit wurde
Jetzt ist es aber wirklich Zeit. Der Mann mit dem roten Windbreaker und dem gestutzten weißen Bart, der ein bisschen an Captain Iglu erinnert, blickt erneut auf die Uhr. „So“, sagt er, „es ist zwei Minuten nach 14 Uhr. Ich fange an. We“ – und dieses Wortspiel geht im englischen Original am besten auf – „like to be on time here. (dt.: Wir sind hier gerne pünktlich.)“
Immerhin befindet sich Museumsguide John Noakes nicht nur in jenem britischen Anwesen, das König Charles II. 1675 errichten ließ, um die Positionen der Sterne festzuhalten. Sondern auch auf jenem Hügel am Südufer der Themse, der vor 140 Jahren zum Zentrum der Zeit wurde.
Fehlende Koordinaten
Aber von vorne: „Im 17. Jahrhundert“, beginnt John Noakes, „stand die Schifffahrt vor einem Dilemma.“ Auf hoher See hatten Kapitäne Schwierigkeiten, ihre Position zu bestimmen. Die geografische Breite, also die Ost-West-Achse, konnte durch Sonne und Mond relativ leicht gemessen werden – weil der Äquator zur Orientierung diente. „Aber die Bestimmung der geografischen Länge, also der Nord-Süd-Achse, war weitaus schwieriger, weil hier eine natürliche Referenzlinie fehlt.“
Erster Teil der Lösung: König Charles II. betraute John Flamsteed als ersten royalen Astronomen des Landes, mit der Aufgabe den Sternenhimmel vom Tower of London aus in einem Almanach festzuhalten – und so Orientierung für die Schiffsführer zu schaffen.
Doch der König hatte die Rechnung ohne die Raben gemacht. Jene Vögel im Tower, die sich mit Vorliebe auf Flamsteeds Teleskop setzten und es beschmutzten. Fast wollte Charles die Raben schon abschaffen, da wurde er an die Legende erinnert, dass ein Ende der Raben im Tower das Aus der englischen Krone bedeuten würde. Also musste anstelle der Raben der Astronom gehen.
Wer heute mit dem Boot oder der Hochbahn im Londoner Stadtteil Greenwich (gesprochen: „Grin-itch“) ankommt, den King William Walk entlangläuft und St. Mary’s Gate passiert, tritt in einen weitläufigen Park, in dem sich ein Hügel erhebt, und auf dessen Kuppel ein eindrucksvolles Backsteingebäude sitzt.
Verkäufer der Zeit
Die riesige rote Kugel auf der Turmspitze wird immer noch um 12.55 Uhr in die Höhe gezogen und um Punkt 13 Uhr fallen gelassen, auch wenn heute keine Schiffsführer am Fluss ihre Uhren danach ausrichten. Dafür die Touristen ihre Handys.
So bekannt war das royale Observatorium aber bereits im 18. Jahrhundert für seine akkurate Uhrzeit, dass gewiefte Geschäftsmänner und -frauen hierherkamen, ihre Taschenuhr einstellten und in London die „Greenwich Time“ teuer verkauften.
Durch ein schmiedeeisernes Tor geht es in den Innenhof der Sternwarte. Schnell fällt der Blick auf Menschen, die scheinbar grundlos Schlange stehen. „Aber hier“, deutet John Harries, ein weiterer Museumsguide, auf den Metallbalken im Boden. Natürlich, das obligatorische Fotomotiv: ein Fuß in der westlichen und einer auf der östlichen Hemisphäre. Um jene Stelle, an welcher der royale Astronom in Greenwich sein Teleskop positionierte – und damit für das Land und später die Welt den Nullpunkt setzte.
Der Längengrad-Preis
In der Längengrad-Galerie wird John Noakes ernst. „Hat schon jemand vom Shovell Desaster gehört?“ Kollektives Kopfschütteln. Oberbefehlshaber Sir Cloudesley Shovell, erzählt Noakes dann, war 1707 mit einer Flotte von 21 Schiffen auf dem Weg zurück nach England. Doch er verkalkulierte sich. Anstatt an der englischen Südküste, gelangte er zu den Scilly Inseln – und lief auf Grund. Mehr als 1.400 Matrosen kamen ums Leben.
Um ihre Position akkurat zu bestimmen, brauchten Schifffahrer nicht nur den Sternenalmanach vom Nullmeridian, sondern auch eine genaue Uhrzeit. Doch Uhren funktionierten um 1700 mit einem Pendel. Suboptimal bei Wellengang.
Um ein weiteres Shovell-Desaster zu verhindern, schrieb die britische Krone einen Preis aus. 20.000 Euro (heutige 5,7 Mio. Euro) für jenen, der das Längengrad-Problem lösen konnte.
Auftritt: John Harrison.
Während die Elite des Landes erfolglos an einer Lösung tüftelte, klopfte der Zimmermann an die Tür der Sternwarte: Er habe die Lösung.
Wahrscheinlich lächelte der royale Astronom. Doch es waren verzweifelte Zeiten. Also sollte John Harrison auf einer Reise nach Lissabon doch die Funktionsfähigkeit des Chronometers beweisen.
Voller Tatendrang ging Harrison an Bord. Doch er hatte zwar eine Uhr für die Schifffahrt gefertigt; er selbst war nicht dafür gebaut.
Den größten Teil der Reise hing er über der Reling.
In Lissabon starb dann auch noch der Kapitän, der ihm die Funktionstüchtigkeit hätte bestätigen sollen.
Endlich zurück in England war aber klar: Die Uhr war erstaunlich akkurat.
Zwei Aspekte waren besonders relevant: Um Temperaturschwankungen auszugleichen, schuf er einen bimetallischen Streifen. Und anstelle eines Pendels verwendete er Hantelwaagen. „John Harrison ist heute nicht sehr bekannt – aber meiner Meinung nach ist er der wahre Held“, sagt John Noakes und die Augen des Guides, der einst Schiffskapitän war, glänzen.
Harrisons bimetallischer Streifen wird noch heute in Backöfen, Heizungen oder Wasserkochern verwendet. Und seine Hantelwaagen bildeten die Grundlage der heutigen Uhrmacherkunst.
Franzosen sagen: Non
Während sich andere Nationen an Harrisons Chronometer bedienten: Den englischen Nullmeridian nahmen nicht alle an. Und so regierte Ende des 19. Jahrhunderts das Chaos. Jede Seefahrernation hatte ihre Referenzwerte. Das genügte, um mit der Heimat zu kommunizieren, war aber mühsam in der internationalen Kommunikation.
Bei der internationalen Meridiankonferenz im Oktober 1884 sollte Ordnung geschaffen werden. 41 Delegierte aus 25 Ländern suchten einen einheitlichen Nullmeridian.
Alle waren für England. „Außer“– John Noakes grinst – „die Franzosen. Sie wollten Paris.“ Ihr Groll hielt 27 Jahre. 1911 war esdann aber doch an der Zeit: Frankreich fügte sich und Greenwich wurde für alle zum Mittelpunkt der Zeit.
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