Nachruf auf Helmut Zwickl: Der Eroberer des Sinnlosen

„Sind Sie schon einmal in einen Aufzugschacht gesprungen? Im Traume vielleicht. Dieses Gefühl eines Falles ins Bodenlose, ins Nichts. Die Formel-1-Fahrer kennen es.“ So beschrieb Helmut Zwickl einmal das Unbeschreibliche. Jahrzehntelang hat er aus dem Grand-Prix-Zirkus berichtet, er war mit berühmten Rennfahrern befreundet und selbst ein ausgezeichneter Autofahrer. Zwickl hatte sicher mehr Ahnung von Autos und vom Rennfahren als viele seiner Kollegen. Aber gerade deshalb wusste er: Man kann sich nicht wirklich vorstellen, was es bedeutet, ein Formel-1-Auto im Grenzbereich zu bewegen. Um das zu beschreiben, fehlen eigentlich die Worte. Er hat trotzdem immer wieder welche gefunden.
Helmut Zwickl, geboren am 23. Oktober 1939, stammte aus Wien-Simmering, wo er bis zuletzt gewohnt hat. Sein Vater, Ludwig Zwickl, war eine Hälfte des in der Nachkriegszeit recht populären Musikkabarett-Duos Wondra & Zwickl. Das Sprachgefühl lag also in der Familie, zunächst jedoch erlernte Zwickl den Beruf des Drogisten und war in einer Künstlerfarbenfabrik beschäftigt, die er später übernehmen sollte. Nebenbei schrieb er aber schon erste Artikel, und 1965 beschloss er, einen Beruf daraus zu machen.
Motorsport war damals etwas viel Exotischeres als heute. Es war keineswegs selbstverständlich, dass in den Tageszeitungen von einem Grand Prix berichtet wurde. Für einen jungen Journalisten war das aber auch eine Chance: Die Formel 1 war Terra incognita, man konnte dort viele spannende Storys entdecken. Auch der Journalismus funktionierte damals noch ganz anders. Zwickls erster journalistischer Coup war 1960 ein Interview mit Wolfgang Graf Berghe von Trips: Der Jungreporter hatte dem deutschen Ferrari-Piloten (der ein Jahr später in Monza tödlich verunglücken sollte) einen Brief mit Fragen geschickt. „Schon nach kurzer Zeit kam ein Brief mit seinen Antworten“, erinnerte sich Zwickl. „Der Graf hatte sie selber auf seiner Schreibmaschine getippt.“

Helmut Zwickl (2. v. re.) mit Niki Lauda, 1984 auf dem Hockenheimring

Mit dem englischen Weltmeister Nigel Mansell war Zwickl befreundet, er war sogar zu Besuch in seinem Simmeringer Haus
Gern erzählte er, wie in den 60er-Jahren hin und wieder Jochen Rindt in seinem Jaguar E-Type vor der Tür stand: „Helmut, gemma blasen?“ Jahrzehnte später schrieb Zwickl: „Würde man heute in diesem Wahnsinnstempo um die Ringstraße fahren, man würde nicht nur sofort verhaftet, sondern auch noch psychiatriert werden.“ Als er 1963 – zusammen mit Rindt, der am Formel-Junior-Rennen teilnahm – erstmals zum Grand Prix nach Monaco fuhr, verschaffte er sich mit einer gefälschten Armbinde Zutritt zur Strecke und fotografierte aus nächster Nähe die Boliden, bis er irgendwann von der Polizei abgeführt wurde.
In Rio de Janeiro saß Zwickl am Beifahrersitz, als sich Nigel Mansell auf dem Weg ins Hotel in seinem Mietwagen ein „Hatzerl“ mit Alain Prost lieferte (Mansell gewann, der Schaden am Mietwagen war beträchtlich). Im Sommer 1987, nach dem Grand Prix von Ungarn, war Mansell mit Frau und Kindern in Simmering zu Gast bei den Zwickls. Es gibt ein Foto, das den späteren Weltmeister auf einem Liegestuhl im Garten zeigt, im Hintergrund ein Kinderwagen; gegrillt haben sie damals wahrscheinlich auch.
Obwohl er mit einigen Fahrern befreundet und entsprechend nah dran war am Geschehen, verlor Zwickl nie die Distanz. Heinz Prüller, sein zwei Jahre jüngerer Weggefährte und Konkurrent, wusste die besseren Anekdoten, Zwickl schrieb die besseren Texte. Sein Zugang war analytisch, auch kritisch, und bei aller Liebe war ihm stets bewusst, dass der Motorsport nicht das Leben war (obwohl er früher oft mit dem Leben bezahlt wurde). Als er 2007 in einem Buch auf die wilden Jahre der Formel 1 zurückblickte, gab er ihm den Titel „Die Eroberung des Sinnlosen“. Er war auch ein großer Stilist, formulierte Sätze, mit denen andere Romane beginnen: „Der Morgen am Hungaroring war noch leise, und aus dem Dunst kroch verschlafen der Renntag.“
Seinen ersten Artikel (über einen Fahrlehrgang in Kottingbrunn) hat Helmut Zwickl im Dezember 1959 für die Zeitschrift Austro Motor verfasst, ab 1965 schrieb er vier Jahrzehnte lang für den KURIER, unterbrochen von einem Intermezzo bei der Kronen Zeitung (1967 bis 1972). Er belieferte auch die Autorevue und internationale Motorsportmagazine mit Texten. Und er hat mehr als ein Dutzend Bücher geschrieben. Das erste hieß „Die Angst bleibt an den Boxen“ (1967), einen schönen Titel hatte auch das letzte: „Damals. Als Sex noch sicher und die Formel 1 gefährlich war“ (2018). Dazwischen finden sich Bücher über Jim Clark („Jenseits von schnell“, 1968), Jochen Rindt („Hinrichtung eines Champions“, 1970) und Niki Lauda („Reportage einer Karriere“, 1975, und „Man stirbt nur einmal“, 1976), aber auch ein Kinderbuch über Flugzeuge.

Zusammen mit Michael Glöckner (re.) rief Helmut Zwickl 1993 die "Ennstal-Classic" ins Leben. Die Oldtimer-Rallye wurde immer erfolgreicher und war Zwickl irgendwann wichtiger als die Formel 1
Die Fliegerei war Zwickls zweite große Leidenschaft. Um die Leere nach Rindts Tod auszufüllen, machte er 1971 den Pilotenschein, seit 1973 hatte er einen eigenen Flieger. Auch die Oldtimer-Rallye „Ennstal-Classic“, die er 1993 gemeinsam mit Michael Glöckner ins Leben rief, gehörte zu seinen Steckenpferden. Und in seiner Simmeringer Garage standen ein paar tolle Autos: zwei Porsches, ein Ferrari und ein Lamborghini Islero (Baujahr 1968), bei dessen Renovierung er auch selbst Hand anlegte.
Während die Ennstal-Classic blühte und gedeihte, immer größer und erfolgreicher wurde, ließ Zwickls Enthusiasmus für die Formel 1 mehr und mehr nach. Die Dominanz des Bordcomputers war ihm ebenso suspekt wie streng reglementierte Überholmanöver oder DRS-Zonen. Auch mit der neuen Fahrergeneration fremdelte Zwickl. Ein diesbezügliches Schlüsselerlebnis hatte er, als er nach einem Rennen Michael Schumacher fragte, warum er ausgefallen war. Statt zu antworten, wimmelt ihn dieser ab, er wolle irgendwann auch seine Ruhe haben. Zwickl konnte es nicht fassen.
Von mehr als 560 Formel-1-Rennen hat er berichtet, zuletzt im Oktober 2005 vom Grand Prix in Suzuka. Er war einer von sechs Journalisten weltweit, denen die FIA einen „Honorary Member Pass“ ausgestellt hat, eine lebenslange Akkreditierung. Zwickl war stolz darauf, machte davon aber keinen Gebrauch. „Es ist nicht mehr meine Formel 1“, sagte er 2014 in einem Interview. „Irgendwie ist sie ein schlechter Witz geworden.“
Helmut Zwickl hat noch Zeiten erlebt, als in der Formel 1 akute Lebensgefahr bestand. „Ich bin mir damals vorgekommen wie ein Kriegsberichterstatter“, sagte er im Rückblick. In den 60er-Jahren schrieb er: „Wenn ein Briefträger seine Arbeit aufnimmt, steht für ihn ziemlich fest, dass er sie am gleichen Tag lebend beendet. Auch ein Eisenbahner verschwendet keinen Gedanken an die Möglichkeit, dass ihn ein Güterzug ins Jenseits befördern könnte. Für den Rennfahrer ist der Tod der gleiche undefinierbare Niemand wie für uns, dem man möglichst erst im hohen Alter begegnen will.“ Am 9. Februar ist Helmut Zwickl im Alter von 85 Jahren gestorben.
Kommentare