Was Aiwanger mit uns zu tun hat

Hubert Aiwanger mit Strohhut blickt nach oben.
Im Internet-Zeitalter gibt es keine Jugendsünden. Die Frage ist nur: Wie weit zurück dürfen politische Vorhalte eigentlich gehen?
Christian Böhmer

Christian Böhmer

Darf jemand, der als Schüler ein menschenverachtendes Flugblatt besessen hat, weiterhin eine tragende politische Funktion ausüben? Seit einer Woche beschäftigt diese Frage Deutschland und vor allem Bayerns Ministerpräsident Markus Söder. Am 8. Oktober wählt der Freistaat den Landtag neu. Und nachdem publik wurde, dass Söders Stellvertreter Hubert Aiwanger wegen eines antisemitischen Flugblattes als Teenager diszipliniert worden ist, musste Söder nun entscheiden: Kann Aiwanger den Job behalten?

Ja, er kann, sagte der CSU-Chef am Sonntag – worauf politische Gegner bis hinauf zum deutschen Wirtschaftsminister Robert Habeck den „Grundkonsens der Republik“ in Gefahr sahen.

Doch an dieser Stelle muss man fragen: Über wen genau wird eigentlich geurteilt? Geht es um den 52-jährigen Herrn Aiwanger? Oder doch um den 16-jährigen Hubert?

Beim Politiker Aiwanger ist die Sache klar: Er hat zu einem scheußlichen Flugblatt viel zu spät und zurückhaltend Position bezogen. Das war falsch, das sieht selbst Söder so.

Viel relevanter ist die Frage, wie wir – und ja, das ist auch eine Diskussion für Österreich – wie also wir mit den 16-jährigen Aiwangers dieser Welt umgehen. Wie weit zurück können und dürfen politische Vorhalte gehen, wenn sie nicht vom Strafrecht erfasst sind – oder schon damals waren?

Die Frage ist deshalb zwingend, weil es im Internet-Zeitalter keine lässlichen „Jugendsünden“ gibt. Fast alles, was Jugendliche tun oder sagen, wird dokumentiert, auf Sozialen Netzwerken, in Clouds bzw. auf den Chips ihrer Smartphones gespeichert – für die Ewigkeit.

So gesehen kann und muss die Causa Aiwanger Anlass sein darüber nachzudenken, was genau wir von Politikern fordern.

Ein kurzes Gedankenexperiment: Im Nationalratswahlkampf 2024 taucht ein Jugend-Video eines Kandidaten auf, der – möglicherweise betrunken? – einen sexistisch-rassistischen Witz erzählt.

Ist er deshalb heute als Kanzler jedenfalls untragbar? Selbst wenn er sofort beteuert, er bedaure das zutiefst und habe nur provozieren wollen, wie das Teenager tun?

Natürlich kann man der Ansicht sein, man habe mit 16 selbstverständlich zu wissen, dass nichts im Leben ohne Konsequenzen bleibt – man ist ja schon wahlberechtigt!

In dem Fall müssen wir aber akzeptieren, dass seit zehn Jahren oder mehr de facto alle potenziellen Spitzenpolitiker erpressbar sind, weil von ihnen irgendein dokumentierter Teenager-Schwachsinn existiert. Ausgenommen bleiben nur diejenigen, die schon als Schüler so kontrolliert sind, dass von ihnen kein Video existiert, dass Jahrzehnte später politisch „verwertet“ werden kann. Es wäre eine Politik, in der es vor allem die ausnahmslos Abgeklärten und bedingungslos Disziplinierten ganz nach oben schaffen.

Was für eine furchtbare Vorstellung.

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