Nach ÖVP-Vorstoß: Soll das Arbeitslosengeld gekürzt werden?

Die aufmerksame Grazerin fiel nicht auf den Betrug herein (Symbolbild)
Die ÖVP hat in ihrem "Österreichplan" im Vorfeld der Nationalratswahl eine Senkung der Lohnnebenkosten um jährlich 0,5 Prozentpunkte bis 2030 versprochen. Bewerkstelligen will sie das unter anderem durch Einsparungen in der Arbeitslosenversicherung. Konkret soll die Nettoersatzrate (aktuell 55 Prozent) zeitabhängig auf unter 50 Prozent sinken.
Von welchem Wert die Volkspartei starten will, lässt sie offen. Bei Grünen, SPÖ, FPÖ und Gewerkschaft stößt das auf Widerstand.
Zwei Redakteurinnen des KURIER im Pro & Contra:
PRO
Das Arbeitslosengeld soll, nein muss an die veränderten Bedingungen des Arbeitsmarktes angepasst werden, wenn es Österreichs Bevölkerung wie Wirtschaft weiter halbwegs gut ergehen soll. In Zeiten der fortwährend eingetrübten Konjunkturaussichten, der gestiegenen Abhängigkeiten und des beinharten Wettbewerbs mit Weltmächten wie Nachbarländern steht Österreich mit einer Nettoersatzrate, die im ersten Jahr der Arbeitslosigkeit bei 55 Prozent des letzten Aktivbezugs beginnt und fünf Jahre später 51 Prozent beträgt, relativ allein da.
Zum Vergleich: Im OECD-Schnitt beginnt die Nettoersatzrate bei 62 Prozent, fällt aber nach zwei Jahren der Joblosigkeit auf 34, nach fünf Jahren auf 28 Prozent. In Skandinavien, an dem sich Österreich gerne ein Beispiel nehmen will, sinkt die weitaus höhere Nettoersatzrate und damit das Arbeitslosengeld innert fünf Jahren maßgeblich ab: in Dänemark in besagtem Zeitraum von 78 auf 47 Prozent, in Schweden von 72 auf 60 Prozent . Das sogenannte degressive Arbeitslosengeld-Modell bringt nicht zwangsläufig mehr Menschen in Armut, aber Bewegung in den Arbeitsmarkt. Weil nach joblosen Monaten wegen des geringeren Arbeitslosengeldes mehr Animo besteht, Arbeit zu suchen. In Österreich geht das Argument ins Leere, weil die Nettoersatzrate fast unverändert bleibt.
Das wissen Arbeitgeber nur allzu gut und zu berichten, die Jobs zu vergeben haben, die darob oft unbesetzt bleiben. Das kann sich ändern – zum Wohle aller – wenn das System reformiert wird.
Johanna Hager ist stv. Leiterin der Innenpolitik
CONTRA
Eine Kürzung des Arbeitslosengeldes durch Absenken der Nettoersatzrate ist purer Populismus auf Kosten jener, die ohnehin wenig haben. Sie löst kein einziges Problem am Arbeitsmarkt, stigmatisiert eine ganze Gruppe von Menschen und verschärft die soziale Spaltung.
Das im EU-Vergleich recht niedrig angesetzte Arbeitslosengeld ist keine staatliche Almose, sondern eine Versicherungsleistung mit Auflagen. Wer Geld bezieht, muss arbeitswillig und arbeitsfähig sein. Die überwiegende Mehrheit der Betroffenen sind Kurzzeitarbeitslose, die nur wenige Monate beim AMS vorgemerkt sind. Das größtes Problem ist die Verfestigung der Arbeitslosigkeit. Davon am meisten betroffen sind die Schwächsten der Gesellschaft: Menschen mit Behinderungen oder gesundheitlichen Einschränkungen, Frauen in Teilzeit mit Betreuungspflichten oder gering Qualifizierte im Niedriglohnsegment.
Durch die Kürzung von Arbeitslosengeld fällt diese Gruppe in das Sozialnetz der Länder (Mindestsicherung) und Gemeinden. Gut zu beobachten in Deutschland, wo seit Einführung der Hartz-IV-Regeln die Sozialausgaben der Gemeinden stark angestiegen sind und immer mehr Menschen auf Essen in Tafeln angewiesen sind. Auch die Zahl der Obdachlosen ist höher als in Österreich. Eine schwindende Kaufkraft wirkt sich letztlich negativ auf den Konsum und damit die Wirtschaft aus. Und der Arbeitsanreiz? Wer jeden Job unabhängig von der Qualifikation annehmen muss, ist oft rasch wieder zurück in der Arbeitslosigkeit („Drehtüreffekt“).
Anita Staudacher ist stv. Leiterin der Wirtschaft
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