Man sollte der EU schon was zutrauen

Sie ist besser als ihr Ruf. Als Schutzwall gegen Krisen braucht die EU den Rückhalt ihrer Wähler.
Ingrid Steiner-Gashi

Ingrid Steiner-Gashi

Vielleicht erwarten die Bürger zu viel von ihrer Europäischen Union: Alles geht immer viel zu langsam. Alles ist bürokratisch, alles ist anfechtbar oder abstrakt. Die EU? „Ich habe nicht das Gefühl, dass ich mitbestimmen kann, was da passiert“, kriegt man allenthalben zu hören.

Kann man doch. Sogar auf zweierlei Art: Zunächst mit der gewählten, eigenen Regierung, die in Brüssel mitgestaltet. Und mit der Kür der europäischen Abgeordneten eines Landes. Dass die Wahl zum Europäischen Parlament dennoch nicht mehr Wähler vom Hocker reißt, hat ihre Gründe: Denn gewählt wird nicht eine Europäische Regierung – das wird die EU-Kommission in den gefühlt nächsten hundert Jahren nicht werden. Und gewählt wird auch nicht ein Europäischer Kanzler, auch wenn das Spitzenkandidatensystem der politischen Fraktionen im EU-Parlament die Wähler fast dazu verleiten könnte, dies zu glauben. Tatsächlich zeigt sich: Landauf, landab, von Finnland bis Portugal haben nur wenige Wähler dieses System verstanden.

Wen wählt man also, außer jenen Parlamentarier oder jene Partei, die man im EU-Parlament vertreten sehen will? Man wählt ein politisches System namens EU, das trotz oder kraft seiner inneren Verschiedenartigkeit in der Lage ist, über 500 Millionen Bürger in Europa ein Leben in Frieden zu sichern. Oder, wie formulierte es jüngst EU-Kommissarin Margrethe Vestager: „Nirgendwo kann man heute besser leben als in Europa. Noch dazu als Frau.“

Man wählt auch eine Union, die massive Krisen meistern kann. Die Finanzkrise, sie ist überstanden, ohne dass Griechenland aus der Eurozone geworfen wurde. Die Migrationskrise, sie ist nach dem Drehen vieler Stellschrauben so weit im Griff, dass sie keine existenzielle Bedrohung mehr für den Fortbestand der EU darstellt. Und der Brexit? Wie schwierig es ist, den sicheren Hafen der EU zu verlassen, das exerziert Großbritannien jeden Tag vor. Im Gegenteil ließ das – geplante – Ausscheren der Briten die 27 anderen EU-Staaten zusammenrücken. Sogar die europa-kritischen Rechtspopulisten vollzogen eine Kehrtwende: Ein Ausstieg aus der EU ist kein Thema mehr, vielmehr wird nun das Ziehen der Bremse von innen gepredigt: Weniger EU heißt ihr Credo, weniger Vorschriften, dafür mehr eigene, nationale Kontrolle.

Dass Kanzler Sebastian Kurz mit seinem Vorwurf der „Regulierungswut“ in dieses Fahrwasser stößt, lässt staunen. Zur Erinnerung: „Ein Europa, das schützt“, fordert Kurz. Schutz vor den Wirtschaftsrivalen USA und China, Schutz vor militärischer Bedrohung, vor dem Klimawandel, vor Terrorismus und nicht zuletzt vor illegaler Migration – wie soll das funktionieren mit weniger statt mehr Europa?

Die EU schafft vieles, man sollte es ihr durchaus zutrauen. Für den nötigen Schub aber braucht sie die Unterstützung ihrer Bürger – und ihrer Wähler.

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