Koalitionsverhandlungen: Neuwahlen sind kein Super-GAU

Zehntausende versammelten sich vergangenen Donnerstag vor dem Ballhausplatz, um gegen eine mögliche blau-türkise Regierung zu demonstrieren. Fast täglich prasseln Warnungen vor einem FPÖ-Kanzler Herbert Kickl ein. Verbunden mit der Kritik, dass sich die ÖVP für so eine Lösung hergibt. Die Aufgeregtheit erinnert ein wenig an die Jahre 1999 und 2000, als erstmals ÖVP und FPÖ unter Wolfgang Schüssel und Jörg Haider zusammengefunden hatten.
Dass eine blau-türkise Koalition unter der Führung von Herbert Kickl von vielen Menschen mit großer Sorge gesehen wird, ist verständlich. Man weiß, wie der FPÖ-Chef im Jahr 2018 als Innenminister agiert hat. Man weiß, welche rechten Politiker er in Europa schätzt. Man weiß um das unerträgliche Naheverhältnis der FPÖ zu den rechtsextremen Identitären. Deswegen sollten alle demokratischen Kräfte besonders genau und kritisch darauf schauen, was bei den blau-türkisen Verhandlungen herauskommt.
Ergebnisse abwarten
Dennoch ist es angebracht, das alles auch nüchtern und ohne Schaum vor dem Mund zu verfolgen. Tatsache ist, dass es ÖVP, SPÖ und die Neos nicht geschafft haben, eine Dreierkoalition zu bilden. Die gegenseitigen Schuldzuweisungen für das Scheitern sind müßig. Die Bevölkerung macht alle drei Parteien dafür verantwortlich, wie eine OGM-Umfrage zeigt. Tatsache ist auch, dass Bundespräsident Alexander Van der Bellen nun Herbert Kickl beauftragt hat, mit der ÖVP Regierungsgespräche zu führen. Das haben sich die beiden Parteien nicht unter sich ausgemacht. Somit sollte man auch die Ergebnisse abwarten, ehe man das Ende der Demokratie oder gar den Untergang der freien Welt ausruft.
Es ist auch kein Super-GAU, wenn am Ende der Gespräche nur noch Neuwahlen als letzte Option bleiben, weil bei manchen Themen die Hürden doch zu groß sind. Die Liste der Einwände, wie die Prophezeiung, dass Herbert Kickl politisch danach noch stärker sein wird, dass sich das Kräfteverhältnis im Parlament nur zugunsten der FPÖ verschieben wird, dass es nach einem neuerlichen Wahltag genauso schwer sein wird, eine Koalition zu finden, dass die knappen Kassen der Parteien einen Wahlkampf nicht möglich machen oder dass so zu viel Zeit verloren geht, ist zwar lang, die Gegenargumente sollten aber stärker sein.
Es ist für jede Partei besser, in Neuwahlen zu gehen, als die eigenen Grundwerte über Bord zu werfen. ÖVP und SPÖ würden wohl auf neue Spitzenkandidaten setzen, vielleicht auch die Grünen. Das verändert nicht nur die Ausgangsposition für einen Wahltag, sondern auch für die Gespräche danach. Und bis dahin ist ja noch die Übergangsregierung im Amt. Neuwahlen sind jedenfalls die bessere und demokratischere Variante als der Wunsch so mancher Politbeobachter, eine Expertenregierung einzusetzen.
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