Was uns noch heilig ist

Neutralität! Sie wurde Österreich von der damaligen Sowjetunion als Bedingung für die Unabhängigkeit abverlangt, ist nun aber Nationalheiligtum, weil man sich damit lange Zeit vor ernsthafter Verteidigungspolitik gedrückt hat. Wer sie infrage stellt, dem drohen Verteufelung und Verdammnis.
Pensionsantrittsalter! Frühe Pension ist „Nationalheiligtum“ und Zauber-Trostpflaster gegen alles erlittene Unrecht: von Frauendiskriminierung bis anstrengende Arbeit. Daher geben in der OECD nur Italien und Griechenland einen höheren Anteil ihres Volkseinkommens für Pensionen aus.
Trinkgeld! Dieses Geld gilt als wichtiger, steuerfreier Gehaltsbestandteil – auch wenn die Regierungsparteien gerade einen parlamentarischen Antrag zum „dauerhaften Erhalt der Steuer- und Abgabenfreiheit von Trinkgeldern“ abgelehnt haben – aber nur, weil er von der FPÖ kam. Auch die Frage „Brauchen Sie eine Mehrwertsteuer-Rechnung?“ würde selbst in Italien auf blankes Entsetzen stoßen.
Christentum und Kirche? Nein, das ist nur noch kleinen Teilen der Gesellschaft wirklich „heilig“. Die Papstwahl hat interessiert – aber eher wie ein spannendes WM-Finale. Ansonsten kommt kaum ein Theaterstück ohne Kalauer zur Kirche aus, während der Islam „sakrosankt“ ist.
Sonntagsruhe! Obwohl nur eine klitzekleine Minderheit den „Tag des Herrn“ feiert, ist Österreich eines der letzten Länder, die die Geschäfte bei Strafandrohung am Sonntag eisern geschlossen halten, da kann die Wirtschaftskrise noch so groß sein.
Familie? Am Muttertag gibt es Geschenke, aber das Bekenntnis zur Familie klingt in manchen Ohren nachgerade spießig. Trotz kinderreicher Zuwanderergruppen ist die Geburtenrate mit statistischen 1,31 Kindern pro Frau auf ein Allzeittief gefallen, was die Gesellschaft fundamental verändern wird.
Schönheit des Landes? Obwohl ein erklecklicher Teil der Wertschöpfung aus dem Tourismus kommt und alle so stolz sind auf die Schönheit der Landschaft, sind wir mittlerweile das Land der Plastikzäune, der hässlichen Kreisverkehre und der Einkaufszentren, die die Ortskerne veröden lassen.
Politische Konsensfähigkeit? Das Land bedarf einer gröberen Sanierung, dafür wäre ein politischer Konsens über alle Parteien hinweg unumgänglich: also mutige Regierung, konstruktive Opposition. Ob sich die Koalition etwas traut, erfahren wir demnächst bei der Budgetrede des Finanzministers. Dass die FPÖ derzeit leider keine rationale Kraft ist, wissen wir hingegen schon. Sie hat sich (auch weil sie oft ausgegrenzt wurde) radikalisiert, obwohl es in der Partei immer auch Vernünftige gab und gibt.
Zu den vielen offenen Fragen unserer Welt wird Leo XIV. sicher gute, versöhnliche, wohlklingende Worte finden – aber ob sie in Österreich auf fruchtbaren Boden fallen?

KURIER-Herausgeberin Martina Salomon
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