Von der Leyen zum Zolldeal: Starker, wenn auch nicht perfekter Deal

Von der Leyen und Trump am 27. Juli in Schottland beim Handshake.
Tag für Tag wechseln Waren und Dienstleistungen im Wert von mehr als 4,6 Milliarden Euro auf die andere Seite des Atlantiks. Das jährliche Handelsvolumen von 1,68 Billionen Euro zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten ist Ausdruck der umfassendsten Handelsbeziehung der Welt. Deshalb ist die im letzten Monat erzielte Vereinbarung so wichtig. Über den Deal ist sehr viel geschrieben worden. Dinge, die direkt angesprochen werden müssen. Diese Vereinbarung steht für eine bewusste Entscheidung – Stabilität und Berechenbarkeit statt Eskalation und Konfrontation. Stellen Sie sich nur einmal vor, die beiden größten Wirtschaftsmächte der demokratischen Welt hätten sich nicht geeinigt und einen Handelskrieg begonnen – gefeiert worden wäre das einzig und allein in Moskau und Peking. Stattdessen haben wir uns geeinigt. Auf einen starken, wenn auch nicht perfekten Deal.
Wir sind überzeugt davon, dass Zölle Steuern zulasten von Verbraucherinnen, Verbrauchern und Unternehmen sind. Sie bringen höhere Kosten und weniger Auswahl mit sich und ziehen die Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaften in Mitleidenschaft. Mit Vergeltungszöllen unsererseits würden wir Gefahr laufen, einen teuren Handelskrieg mit negativen Folgen für unsere Beschäftigten, Verbraucher und unsere Industrie zu befeuern. Und alle Eskalation könnte eines nicht ändern: das Festhalten der Vereinigten Staaten an ihrem höheren und unberechenbareren Zollregime.

Ursula von der Leyen
Klare Linie
Das wichtigste Element unserer Vereinbarung ist, dass wir für die meisten EU-Produkte, darunter auch Fahrzeuge und Arzneimittel, eine sehr klare Linie bei 15 Prozent gezogen haben. Durch eine klare All-inclusive-Obergrenze für Zölle bringt dieser Deal jenen Millionen Europäerinnen und Europäern Klarheit und Stabilität, deren Existenzgrundlage vom Handel mit den Vereinigten Staaten abhängt.
15 Prozent ist der Zollsatz für die EU, und das ist ein All-inclusive-Satz. Nur die EU hat diesen Zollplafonds, in dem alles inbegriffen ist. 15 Prozent ohne weitere Aufschläge. Das unterscheidet unseren Deal von Vereinbarungen der Vereinigten Staaten mit anderen Ländern, für die die neuen Basiszollsätze zu bestehenden Zöllen hinzukommen. Damit können europäische Waren unter günstigeren Bedingungen auf den US-Markt gelangen – was EU-Unternehmen einen deutlichen Vorteil beschert.
Wir sind auch die einzigen Partner, die sich eine exklusive Garantie auf die Zollobergrenze für den Arzneimittel-, Halbleiter- und Holzsektor gesichert haben. Darüber hinaus haben wir Null-Zollsätze auf strategische Produkte wie Flugzeugteile und generische Arzneimittel. Dabei handelt es sich nicht um abstrakte Kategorien, denn diese Produkte sind zentral für die europäische Wettbewerbsfähigkeit. Diese Produkte nicht mit Zöllen zu belegen, stärkt die EU ebenso wie die US. Und beide Seiten haben sich fest verpflichtet, weiter daran zu arbeiten, die Liste der Produkte zu verlängern.
Gleichzeitig hat die EU an ihren Grundprinzipien festgehalten. Unsere Regeln bleiben unverändert. Wir entscheiden selbst, wie wir die Lebensmittelsicherheit am besten aufrechterhalten, europäische Bürgerinnen und Bürger online schützen und Gesundheit und Sicherheit gewährleisten. Diese Vereinbarung wahrt unsere Werte und dient gleichzeitig unseren Interessen.
Ende eines Kapitels
Der Deal markiert das Ende eines Kapitels, doch an der Geschichte des künftigen Wohlstands Europas wird weitergeschrieben. Unsere Wirtschaftsbeziehungen mit den Vereinigten Staaten mögen unsere wichtigsten sein, doch sie sind nur ein Teil des viel größeren Gesamtbildes. Die USA sind der größte Ausfuhrmarkt für den europäischen Handel, aber nur rund 20 Prozent der Warenexporte gehen dorthin.
Deshalb wird Europa seine Handelsbeziehungen weltweit weiter stärken und diversifizieren, um neue Exportchancen, Arbeitsplätze und Wachstum zu schaffen. Deshalb haben wir in den vergangenen Monaten Handelsvereinbarungen mit Mexiko und dem Mercosur geschlossen und unsere Beziehungen zur Schweiz und zum Vereinigten Königreich vertieft. Deshalb haben wir unsere Gespräche mit Indonesien abgeschlossen und wollen bis zum Jahresende zu einer Einigung mit Indien kommen. Diese Partnerschaften stärken unser gegenseitiges Vertrauen und unsere Zusammenarbeit und ermöglichen es uns, die gemeinsamen globalen Herausforderungen, einschließlich der Modernisierung des regelbasierten Handelssystems, anzugehen.
Was aber am wichtigsten ist: Europa muss seine eigene Handlungsfähigkeit in einer zunehmend volatilen Welt stärken. Das beginnt hier bei uns – mit der Vollendung unseres Binnenmarktes. Wie Mario Draghi sehr richtig feststellte, schaden hohe interne Hürden und regulatorische Fragmentierung dem Wachstum weit mehr als jeder Zoll, den ein Drittland erhebt. Gegenwärtig ist das Handelsvolumen zwischen den EU-Mitgliedstaaten weniger als halb so groß wie das zwischen den US-Bundesstaaten. Wenn Europa sein volles Potenzial ausschöpfen will, dann ist das unsere drängendste Herausforderung. Vom Bürokratieabbau bis hin zu grenzüberschreitenden Dienstleistungen – wir wissen genau, wo wir ansetzen müssen, um die Wettbewerbsfähigkeit in Europa zu steigern. Und die derzeitige Europäische Kommission arbeitet intensiv daran, dass das auch geschieht.
Geschlossenheit
Europa konzentriert sich weiter auf langfristige Ziele. Es liegt an uns, den Binnenmarkt zu vollenden, unserer Wettbewerbsfähigkeit und Nachhaltigkeit in den Industrien von morgen zu stärken und dafür zu sorgen, dass Europa eine Säule der Stabilität in einer immer unsichereren Welt bleibt. Wenn wir ein starkes und unabhängiges Europa wollen, dann brauchen wir sowohl den Ehrgeiz als auch die Geschlossenheit, es gemeinsam zu gestalten.
Zur Autorin
Ursula von der Leyen ist Präsidentin der Europäischen Kommission. Dieser Gastkommentar erscheint in ausgewählten Tageszeitungen in der EU.
Kommentare