Das Land der begrenzten Möglichkeiten

US-PROTESTS-ERUPT-IN-L.A.-COUNTY-SPARKED-BY-FEDERAL-IMMIGRATION
Eine Grenze kann auch Ausgangspunkt sein, etwa für eine Erstarkung des Parlamentarismus. Ein Gastkommentar von Paul Sailer-Wlasits.

Politik ist – auf groteske Weise – schonungslos ehrlich, denn sie offenbart nahezu überall und jederzeit, wer sie ist und was sie antreibt. In Moskau ebenso wie in Washington, Budapest, Buenos Aires und andernorts zeigen führende Politiker, wozu sie politisch in der Lage und zu welchen Überlastungen des Demokratischen sie jederzeit bereit sind.

In Zeiten politischer und wirtschaftlicher Instabilität, wenn das gesellschaftliche Immunsystem geschwächt ist, eilen die illiberalen Feinde der Demokratie herbei. Sie verschärfen bestehende Konflikte einerseits durch verbale Gewalt in Form von drastischen Zuspitzungen politischer Sprache, andererseits durch das Setzen einer Vielzahl an provokanten Handlungen und erratischen Drohgebärden. Ihr Ziel ist eine Reaktion des Gegenübers, die formalrechtlich als Anlassfall für das Ergreifen autoritärer Maßnahmen dienen soll. Angriffskriege wie der Zweite Weltkrieg, der Vietnamkrieg, die US-Invasion des Irak und jene der Ukraine durch Russland wurden aufgrund von Vorwänden, Lügen, Provokationen und Täuschungsmanövern in Gang gesetzt. Autoritäre Staatsführer, Demagogen und illiberale Machtpolitiker saßen in allen Fällen an den Schalthebeln, immun gegen Humanismus und Moral, jedoch profunde Könner in Sachen Täuschung, Schein und Manipulation.

Das Land der begrenzten Möglichkeiten

Paul Sailer-Wlasits

Schwächen des Systems

Seit Jahrzehnten werden potenzielle Schwächen präsidentieller Regierungssysteme im Hinblick darauf diskutiert, wie viel Macht einem Staatspräsidenten zukommen dürfe. Im Vergleich zur Machtfülle des US-Präsidenten existieren im semipräsidentiellen System Frankreichs demokratieschützende Mechanismen, die es dem Präsidenten verunmöglichen, mittels Gesetzen aus der Zeit der Französischen Revolution autoritäres Handeln in der Gegenwart zu legitimieren.

Das US-Elektorat, nicht nur das Wahlleute-System, sondern die tatsächliche Mehrheit der Wählerschaft, hat vor wenigen Monaten seine Entscheidung gefällt. Dessen ungeachtet bleiben Demokratien nur unzureichend davor geschützt, dass potenziell gesellschaftsschädigende Vorentscheidungen von Mehrheiten getroffen werden, die im Kontext unterkomplexer Meinungsbildung über kaum mehr verfügen als diese ihre Mehrheit. Ein ideales Einfallstor für Populisten und Demagogen.

Wohlhabende Kulturnationen indes verlieren das Prädikat Kultur, sobald sie nicht mehr nach humanistischen und moralischen Maßstäben, sondern nur noch nach Maßgaben des Strafrechts regiert werden. So sind es auch keine süd- oder mittelamerikanischen Kriminellen, sondern primär „hard working people“, die in L. A. und anderen Metropolen vonseiten der US-Gesellschaft benötigte Hilfsarbeiten aller Art verrichten – mit und ohne Aufenthaltsgenehmigung, von Autowäscher bis Haushaltshilfe. Menschen, die teils seit vielen Jahren unbescholten in den USA leben, Steuern zahlen, konsumieren und selbst Teil des Wirtschaftskreislaufs sind. Eine solche zwar diskussionswürdige, jedoch seit Jahrzehnten geübte Praxis der Toleranz innerhalb weniger Monate zu beenden und nicht nur ausländische Straftäter, sondern sämtliche sogenannte „illegal aliens“ der Deportation zu überantworten, ist eine abwegige Interpretation des Gleichheitsgedankens.

Konsolidierung

Erst nachdem die täglich autoritärer werdende politische Episode in den USA zu Ende gegangen sein wird – der demokratische Gouverneur Kaliforniens bringt sich als potenzieller Präsidentschaftskandidat gerade in Stellung –, kann eine Konsolidierung des Parlamentarismus erfolgen. Den Kongress zu stärken, anstatt diesen in einem unaufhörlichen Stakkato präsidentieller Dekrete an den Rand zu drängen, wäre eine dringend nötige Korrektur struktureller Fehlentwicklungen.

Grenzen werden heute primär als Begrenzungen, Eingrenzungen und Ausgrenzungen verstanden. Demgegenüber umfasste der antike griechische Begriff der Grenze eine Vielzahl an Phänomenen. Über das räumlich-zeitliche Ende hinaus wurden Grenzen auch als jenes verstanden, von woher etwas seinen Ausgang nimmt. Grenzen waren Ausgangspunkte für das Überhaupt-möglich-Werden von etwas. Die Tiefpunkte der gegenwärtigen globalen Politik könnten eine solche Grenze bilden. Als Neubeginn, in dessen Fortgang aufgerissene gesellschaftliche Bruchlinien geschlossen werden.

Zum Autor:

Paul Sailer-Wlasits ist Sprachphilosoph und Politikwissenschafter in Wien. Sein Buch „Demagogie. Sozialphilosophie des sprachlich Radikalbösen“ erscheint in Kürze.

Kommentare