Menschenrechte: Rechtsschutzlücke in EU muss eingestanden werden

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Der Reformbedarf beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist unbestreitbar. Ein Gastkommentar von Peter Hilpold.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) steht in der Kritik wie seit Langem nicht mehr. Diese Kritik ist vielfach uninformiert. Der Reformbedarf ist unbestreitbar; es ist aber an der richtigen Stelle anzusetzen. So ist kaum bekannt, dass nicht einmal 5 % der Beschwerden überhaupt zugelassen werden. Zahlreiche Beschwerden, die in objektiver Betrachtung ganz eindeutig einen Verstoß gegen die EMRK zum Gegenstand haben, werden mit einem Einzeiler als unzulässig erklärt, weil angeblich kein in der EMRK garantiertes Recht betroffen sei. Das geschieht selbst dann, wenn die Verstöße sogar für Laien augenscheinlich sind, bspw. wenn ein nationales Gericht eine Vorlageanregung beim EuGH einfach nicht zur Kenntnis nimmt und dementsprechend auch keine Begründung für eine Nichtvorlage liefert. Dies führt nun so weit, dass man selbst im Konventionsraum überlegen muss, bei solchen Verstößen nationaler Gerichte besser gleich den UN-Menschenrechtsausschuss in Genf anzurufen. Renommierte Anwälte raten von einer Beschwerde beim EGMR ab und wenn diese noch so begründet wäre. Weil dieser Schritt von vornherein nahezu aussichtslos wäre und auch ein vergleichsweise bescheidenes Honorar von 1.500 Euro, bei den gegebenen Chancen, gehört zu werden, verschwendetes Geld wäre.

Die aktuelle Diskussion um eine Reform des EGMR ignoriert diese zentrale Herausforderung: Es gibt solche, die ein überaktives Menschenrechtsgericht im Asylbereich fürchten, andere hingegen, die im Gegenteil glauben, uneingeschränkt ein Juwel des Grundrechtsschutzes verteidigen zu müssen. Bekannt sein dürfte die tatsächliche Situation bei den Höchstgerichten, wo man wohl weiß, dass ein Tätigwerden durch den EGMR in den allermeisten Fällen nicht zu erwarten ist. Das Nachsehen haben die Rechtsuchenden.

Ein Mann in einem dunklen Anzug mit blau gestreifter Krawatte steht in einem hellen Raum.

Peter Hilpold.

Dies (und nicht die Migrationsthematik, die ebenfalls eine dringend anzugehende Aufgabe darstellt, aber auf anderer Ebene zu lösen ist, insbesondere über die EU und damit auch über die EU-Mitgliedstaaten) stellt eine zentrale Herausforderung für die Rechtsstaatlichkeit in Europa dar. Insgesamt würde ein wirksamer Zugang zum EGMR einen wertvollen Lösungsbeitrag zur sicherlich fordernden Rechtsstaatlichkeitsdebatte in Europa liefern.

Die Forderung nach einem Austritt aus der EMRK stellt keine Option dar. Die grundrechtlichen Errungenschaften, die durch die EMRK erzielt worden sind, stehen außer Zweifel. Publizitätsträchtige Urteile wie jenes im Fall der „Klimaseniorinnen“ rütteln wach, auch wenn sie dogmatisch problematisch sind. Wenn aber Tausende an Rechtsuchenden mit gut begründeten Beschwerden ohne Rechtsschutz bleiben, liegt der Reformbedarf auf der Hand. Es liegen zahlreiche Vorschläge für eine Abhilfe auf dem Tisch, doch werden diese so lange keine Umsetzung erfahren, wie die zentralen Probleme im wirksamen Zugang zum EGMR nicht offiziell eingestanden werden.

Kein wirksamer Schutz

Über die Finanzierung des EGMR müsste nachgedacht werden. Ein mittlerweile auf 88 Mio. Euro angestiegenes Jahresbudget ist für die Steuerzahler in den Konventionsstaaten viel, wenn diesen über weite Strecken kein wirksamer Grundrechtsschutz gewährt wird. Ernsthafte Bemühungen, diesen sicherzustellen, würden hingegen eine Budgeterhöhung ohne weiteres rechtfertigen. Sollte das Problem des unzureichenden Rechtsschutzes tatsächlich primär eine Ressourcenfrage darstellen, so wäre der Gerichtshof gefordert, diesen Mangel offen zu deklarieren und entsprechend auch die streng selektive Behandlung von Beschwerden zu begründen. Ein offenes Eingeständnis der Rechtsschutzlücke könnte politische Handlungsbereitschaft generieren. Spezielle Nachprüfverfahren, eventuell auch auf nationaler Ebene, könnten eklatant unhaltbare Unzulässigkeitserklärungen der letzten Jahre aufdecken und zumindest moralische Genugtuung bieten.

Die Wissenschaft mag diese Problematik z. T. nicht kennen, z. T. auch bewusst in einem als „Business“ verstandenen Betätigungsfeld ignorieren. Es gibt aber auch glasklare Analysen dieser Problematik auf der Ebene von Spitzenexperten wie Steven Greer und Luzius Wildhaber. Es geht darum, der Realität endlich ins Auge zu sehen.

Zum Autor:

Peter Hilpold lehrt Völkerrecht, Europarecht und Steuerrecht an der Universität Innsbruck.

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