Wiener Festwochen: Nach Schein muss auch Sein kommen
Das Kulturjahr 2023 begann mit einer vielversprechenden Meldung. Milo Rau wurde als Intendant der Wiener Festwochen präsentiert. Seine Lust auf politische Auseinandersetzung passt in eine Stadt, deren wichtigstes Festival um Bedeutung ringt. Die ersten Sorgenfalten kamen Anfang März, als das Festwochen-Team in Pussy-Riot-Sturmmasken mit dem Fiaker vor dem Hotel Imperial vorfuhr. Eine Inszenierung wie ein Je-suis-Charlie-Facebook-Profil: Der lebensgefährliche Kampf um Freiheit wurde zu einer Pose.
Durch Milo Raus Eigen-PR auf der Festwochen-Website bekam die Inszenierung eine verstörende Schlagseite. Dort lässt er sich mit den Superlativen „einflussreichster“, „meistausgezeichneter“, „interessantester“, „umstrittenster“, „skandalösester“ und „ambitioniertester“ präsentieren. All das sei er als „Künstler“ im gigantischen Referenzrahmen „unserer Zeit“. Wer in den zitierten Medien nachliest, könnte den Eindruck gewinnen, dass Rau verbal gerne aufrundet – ein geachteter europäischer Regisseur zu sein, reicht ihm nicht. Ähnliche Unschärfen offenbart er bei Auszeichnungen, etwa wenn es darum geht, dass er 2018 den „Europäischen Theaterpreis“ für „sein Lebenswerk“ erhalten hat. Tatsächlich war es der „Europäische Theaterpreis für Neue Realitäten“, eine Nebenschiene, die nicht für „Lebenswerke“ sondern für Theaterexperimente vergeben wird.
Große Worte
Rau provoziert solche Einordnungen, weil der leichtfertige Umgang mit großen Worten den wichtigen Kern seiner künstlerischen Postulate schwächt. Zum Einen möchte er Machtstrukturen zerschlagen, triggert in der Selbstvermarktung aber uralte Konzepte des Geniekults. Zum anderen ächzt Wien unter einem großspurigen Begriffsreigen, in dem jede Intervention zu einer Revolution hochgejazzt wird.
Unschön wird es, wenn der Neo-Intendant seine Vorgänger in einem Ö1-Interview mit der Behauptung kleinmacht, diese hätten abgehoben agiert, seien weder „transparent“ noch „divers“. Denn Besserung ist nicht in Sicht. Fragwürdige Personen wie Annie Ernaux und Yanis Varoufakis mit dem Anschein eines radikalen Diskursanspruches einzuladen und sich dann nicht zu trauen, die beiden vor Ort einzubinden, ist kontraproduktiv – das Ausreden auf einen „intellektuellen Austausch“ ziemlich abgehoben. „Ich habe das Bedürfnis gespürt, mich mit der Stadt auszutauschen“, sagt Milo Rau. Das tut er mit einem Rat der Republik bestehend aus 30 BeraterInnen, die „zum allergrößten Teil nicht hier sein werden“ und mit 69 Wienerinnen „aus allen Hintergründen“. Die erdrückende Präsenz der Kultur- und Kreativwirtschaft wirkt dabei wie eine paradoxe Intervention. Darüber hinaus dominieren AkademikerInnen, Studierende, Selbstständige. Berufsgruppen wie Handwerk und Pflege sind nahezu unsichtbar. Vielleicht sollte man Milo Rau sagen, dass die Leute nicht deppert sind. Schon gar nicht die sogenannten „bildungsfernen“ Schichten, die sich Tag für Tag virtuos durch den Alltag kämpfen. Spannende Konzepte wie die sogenannten „Wiener Prozesse“ drohen mit einer derartigen Doppelbödigkeit zum gefährlichen Wahlkampffutter für die FPÖ zu werden: Die Interpretation, es handle sich um die Selbstüberhöhung einer satten Bürger-Bohéme, die dem Pöbel eine moralische Lektion mit künstlerischen Mitteln erteilen will, ist leider zum Greifen nahe.
Der neue Festwochen-Intendant muss unbedingt die Chance bekommen, es ab 2025 besser zu machen. Dafür wird es Respekt und Selbsterkenntnis brauchen. Respekt vor der großen Aufgabe, sensibel zwischen künstlerischem und diskursivem Anspruch zu agieren. Selbsterkenntnis dahingehend, dass der Status als bedeutendster Festivalmacher aller Zeiten vielleicht doch noch nicht erreicht ist. Dem Schein muss in den nächsten Jahren Sein folgen. Milo Rau ist das zuzutrauen – das zeigt er just als Kurator im Traditionsgenre Theater.
Zu einer Renaissance der Wiener Festwochen hat auch sozialdemokratische Kulturpolitik beizutragen. Seit Jahren drückt sie sich vor einer Debatte zur Funktion des Festivals in einer modernen Stadtgesellschaft. Nur mit so einem Koordinatensystem lassen sich revolutionäre Ansprüche authentisch realisieren.
Fabian Burstein ist Autor und Kulturmanager. Zuletzt erschien sein Buch „Empowerment Kultur“ (Edition Atelier).
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