Balkonstaat Österreich: Wo sagte Figl "Österreich ist frei"?

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Wo fielen die berühmten Worte beim Staatsvertrag eigentlich. Das kollektive Gedächtnis kann täuschen. Ein Gastkommentar von Martin Haidinger

Wann ist der Zweite Weltkrieg nun wirklich zu Ende gegangen? Am 8. Mai 1945. So steht es in den Geschichtsbüchern. Warum hörte ich dann seine Stimme noch 50 Jahre danach mitten in Wien? Immer dann, wenn ich in meiner Heimat Favoriten über den Reumannplatz zur U-Bahn ging? Wie von Sinnen brüllend lief da eine alte Frau mit grotesk verzerrten Gesichtszügen auf und ab und gab unverständliche Laute von sich. Das ganze Leid der Welt schien in den heiseren Schreien zu liegen. „Die ist narrisch worden“, erzählte mir einmal ein alter Favoritner, „wie’s damals im „45er Jahr bei einem Bombenangriff im Keller verschüttet worden ist.“ Irgendwann, so gegen Ende der 90er-Jahre verschwand die Alte aus dem Straßenbild, und mit ihr das Gebrüll. Nicht für mich. Ich hab es heute noch im Ohr, das ferne Geheul des Krieges. Meine Mutter (92) neuerdings auch: „Ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich im hohen Alter in den Nachrichten wieder dieselben Kriegsschauplätze höre und sehe wie damals in den Frontberichten in der Wochenschau: Charkiw, Odessa …“

Mehrere Zäsuren

Der 8. Mai war nur eine von mehreren Zäsuren. Im Pazifik ging der Krieg der Alliierten mit Japan bis Ende August 1945 weiter und für Millionen von deutschen Zivilisten aus Ostpreußen, Schlesien und dem Sudetenland begann nach dem 8. Mai im „Frieden“ das Grauen von Massenmord und Vertreibung durch Tschechen, Polen und die Rote Armee.

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Martin Haidinger

Während in Wien am 27. April die erste Regierung Renner gebildet wurde, mordete weiter westlich in den Konzentrationslagern noch die SS. Und meine Mutter erlebte als 13-Jährige mit, wie just am 8. Mai die letzte durchziehende SS-Einheit in Gratzen (Nové Hrady, Tschechien) den beliebten Schuldirektor Franz Schatzl, den Bürgermeister Schmotz und den Forstmeister Pretschner vor dem Rathaus und der Schule erhängte bzw. erschoss. Der Grund: Sie hatten die Hakenkreuz-Embleme vom Schulgebäude entfernt, waren also „Verräter“. Die versammelten Schulkinder mussten die Morde mitansehen. Zwei Tage danach traf die Rote Armee in Gratzen ein.

Niemandsland

„Niemandsland zwischen Krieg und Frieden“ nannte der Historiker Kurt Bauer sein neues Werk zu Erinnerungen an diese Tage vor 80 Jahren und das trifft genau den Punkt. Auch mein aktuelles Buch „… und dann wurden sie Nazis“ enthält manch ganz präzise Rückschau von Zeitzeugen. Aber kann man der eigenen Merkfähigkeit immer vertrauen?

„Der Staatsvertrag ist dann Gott sei Dank unterzeichnet worden, und zu dem Anlass war halt bei uns, weil wir den ersten Fernseher gehabt haben, die ganze Umgebung, und so haben wir das miterleben können, wie der Figl vom Balkon heruntergeschrien hat: Österreich ist frei!“

Die Erinnerung einer steirischen Frau an den 15. 5. 1955 ist so rührend in ihrer Empathie wie falsch in den Details. Denn Außenminister Leopold Figl hat wohl im Marmorsaal die berühmten Worte „Österreich ist frei!“ gesprochen, am Balkon des Belvederes allerdings nichts gesagt. Und im Fernsehen sah man das Ganze schon gar nicht, denn das TV-Versuchsprogramm startete seinen Betrieb erst im August 1955. Trotzdem wurden diese Irrtümer zu immer wieder erzählten Bestandteilen der angeblich erinnerten oder selbst erlebten Reminiszenz an jenen Tag des Staatsvertrags.

Es ist der Historiker Peter Teibenbacher gewesen, der mich vor einigen Jahren auf dieses Gustostückerl austriakischer Erinnerungskultur aufmerksam machte. Er stellt die Frage nach dem „Balkonstaat Österreich“, dessen Bewohner immer wieder von Brüstungen herab Bedeutendes mitgeteilt bekamen. Es sei kein Wunder, dass Menschen einfach erwarten, dass bei solchen Anlässen auch inhaltsschwangere Worte fallen.

Nun könnte man der Ansicht sein, dass es für den Lauf der Geschichte doch unerheblich ist, wann und wo die Figl’schen Worte gefallen sind. Aber sollte es uns nicht nachdenklich machen, was wir zu sehen, zu hören, zu erleben vermeinen? Und das gleich in der Masse? Und geht es uns mit manch weiterführenden Interpretationen und Einschätzungen des angeblich Erlebten nicht genauso? Nicht zuletzt hilft uns die Erinnerung, wie diffus oder präzise sie auch sein mag, bei der Selbstfindung. Und das macht sie so wertvoll.

Zum Autor:

Martin Haidinger ist Historiker und Ö1-Wissenschaftsredakteur. Radio-Tipp: „Science Arena – Wo warst du am 15. 5. 1955?“ auf sound.orf.at; Montag, 19. 5., 16.05: „80 Jahre Brünner Todesmarsch“.

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