Österreich und die EU: Ein Hang zur Selbstverzwergung

Keine Frage. Die EU und ihre Mitgliedstaaten haben Probleme. Manche sind hausgemacht, andere internationaler Natur. Europa braucht Reformen, aber müssen wir uns deswegen verstecken? Geht es anderen so viel besser? Es lohnt sich jedenfalls, die europäische Selbsteinschätzung nachzujustieren.
Wir sind überreguliert. Kein europäisches Unternehmen kann es mit Amazon, Google oder Tesla aufnehmen. Aber zum Glück haben wir keine Tech-Oligarchen, die Wahlen kaufen und sich die Politik zu eigen machen. Und auch wenn die Wirtschaftsleistung zu wünschen übrig lässt: Schuldenstand und Neuverschuldung der EU sind geringer als jene der USA, während darüber hinaus soziale Gerechtigkeit hochgehalten wird.
Europa ist naiv und moralisierend, indem es glaubt, globale Standards setzen zu können, heißt es. Es baut jedoch auf das Völkerrecht, auf regelbasierten Welthandel statt Zollmachtspiele und denkt mit seinem Drängen nach niedrigeren Emissionen weiter als so manch anderer. Für Europa gilt die Stärke des Rechts, nicht das Recht des Stärkeren. Die EU-Staats- und Regierungschefs wissen auch, wer eigentlich der Aggressor im russischen Krieg gegen die Ukraine ist. Und bei allen Schranken, die zur Steuerung von Migrationsbewegungen heruntergelassen werden, bilden rechtsstaatliche Verfahren – und nicht Willkürakte – die Entscheidungsgrundlage.

Paul Schmidt
Meinungsfreiheit
Die Europäer können – apropos Meinungsfreiheit – so ziemlich alles sagen, was sie wollen. Auf den Universitäten sind kontroverse Debatten willkommen. Keiner muss fürchten, wegen seiner Ansichten Förderungen zu verlieren oder abgeschoben zu werden.
Aber ja, wir brauchen lange, um etwa ein siebenjähriges EU-Budget unter Dach und Fach zu bringen. Demokratie dauert. Doch gibt es zumindest keine Zahlungsausfälle, bei denen regelmäßig Beamte ohne Gehalt dastehen und öffentliche Dienstleistungen nicht abrufbar sind. Konsensentscheidungen sind kompliziert und können nicht jeden zufriedenstellen. Ganz sicher sind sie jedoch Schnellschüssen via Social Media vorzuziehen, die Börsen und Ersparnisse von Millionen Menschen weltweit abstürzen lassen. Und auch eigene Kryptowährungen europäischer Regierungschefs sind bis dato nicht überliefert.
Loslösung von USA
Sich aus der sicherheits- und verteidigungspolitischen Abhängigkeit der USA zu lösen, ist essenziell, geht aber nicht von heute auf morgen. Jetzt gibt es zumindest die Chance für Europa, schrittweise stärker auf eigenen Beinen zu stehen. Sicherheit bedeutet für uns jedoch nicht, Nachbarn unter Druck zu setzen, anzugreifen oder zu annektieren. Unsere Nachbarn wollen lieber – und das freiwillig – Teil der Europäischen Union werden.
Europa wird gerne als Freiluftmuseum verspottet. Aber so schlecht ist es gar nicht, seine eigene Geschichte zu kennen und auf das Gemeinsame zu setzen. Hierzulande kann man jedenfalls in den Städten spazieren gehen, seine Kinder angstfrei in die Schule schicken und eine hohe Lebenserwartung genießen. Also: kein Grund, sich kleiner zu machen, als wir sind. Ganz im Gegenteil!
Zum Autor:
Paul Schmidt ist Leiter der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE). Sie wurde 1991 gegründet, wird finanziert und gebildet von den Sozialpartnern und der Oesterreichischen Nationalbank.
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