Für eine Wende in der Antisemitismuspolitik

Benjamin Kaufmann
Viele Jüdinnen und Juden trauen nur dem Staat Israel zu, jüdisches Leben zu schützen. Ein Gastkommentar von Benjamin Kaufmann.

Ich befand mich für das Wallfahrtsfest Sukkot, dessen Ende wir am 7. Oktober gefeiert haben, in Israel. Ich hatte unruhig geschlafen und war bereits wach, als um 6:30 der erste Luftalarm in Tel-Aviv viele in meinem Wohngebäude weckte und in Schlafanzügen oder hastig übergestülpten Bademänteln in das Stiegenhaus trieb – ein Schutzraum fehlt in dem in den 1940er-Jahren errichteten Bau. Beim zweiten Luftalarm, knapp zwei Stunden später, waren alle bereits angezogen, als wir die Erschütterungen des Bodens von einem Einschlag ein paar Straßen weiter nördlich spürten.

Ich zögerte nicht, meinen Tag wie geplant fortzusetzen, und spazierte in die Synagoge. Luftalarm wegen Raketenbeschuss ist in Israel nichts Außergewöhnliches. Ich habe viel Zeit in Israel verbracht und war in den vergangenen Jahren oft entspannter bei Luftalarm in Tel-Aviv als im Alltag im antisemitischen Europa. Viele der Wohnzimmerexpertinnen und -experten würden wohl weniger entspannt reagieren, wären sie unter Beschuss. Ich aber habe mir an diesem Vormittag noch nicht vorstellen können, Israel zu verlassen.

Keine Konsequenzen

Die Nachrichten des 7. Oktober erreichten mich wegen des Feiertags mit Verspätung. Als sie es aber taten, begriff ich sofort, dass dies nicht nur ein weiterer Tag mit Luftalarm war, sondern einer, der die Welt verändern würde. Es waren Nachrichten über Shoah-Überlebende, die entführt wurden. Nachrichten über Menschen, denen bei lebendigem Leib Körperteile abgetrennt wurden. Nachrichten über Frauen, Seniorinnen und Mädchen, so brutal vergewaltigt, dass ihnen das Schambein gebrochen wurde. Nachrichten über Schwangere, denen der Bauch aufgeschlitzt wurde um erst das Embryo und dann sie selbst zu ermorden. Nachrichten über Kinder, die vor den Augen ihrer Eltern totgetreten, geköpft oder lebendig verbrannt wurden. All das inmitten von Leichen von Freundinnen, Freunden und Familienmitgliedern und aufgezeichnet mit den Handys der Opfer, um die Filme an deren Angehörige zu schicken. Diese Tatsachen sind bekannt, aber ich wiederhole diese schmerzhafte Aufzählung, weil, anders als in Israel, in Europa keine Konsequenzen daraus gezogen wurden. 

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Als ich diese Nachrichten sah, rief ich ein Taxi und fuhr zum Flughafen. Mir war klar, dass mein für den 12. Oktober geplanter Flug nach Wien ausfallen würde. Während der Fahrt suchte ich nach Flugverbindungen, viele waren schon gestrichen, aber ich hatte das Glück noch über Istanbul nach Wien ausreisen zu können. Hätte das Gebäude, in dem ich gewohnt habe, einen Schutzraum gehabt, hätte ich vielleicht anders entschieden. Vielleicht aber hätte ich es auch dann meinem verwitweten Vater nicht antun wollen, dort zu bleiben. Viele meiner Freundinnen und Freunde aber sind seither von Europa nach Israel geflogen, um zu helfen und um in dieser Zeit zuhause zu sein. Denn auch in Kriegszeiten fühlen sich viele in Israel wohler als in Europa. Trotz der Ereignisse vom 7. Oktober bleibt für viele Jüdinnen und Juden Israel der einzige Staat, dem sie zutrauen, jüdisches Leben zu beschützen.

Keine Überraschung

Als ich in jener Nacht aus Israel ausreiste, quittierte das ein Freund von mir mit den Worten: Es gibt die, die hier sind und es gibt die, die dort sind. Er hat recht. Es herrschte immer eine gewisse Spannung zwischen Jüdinnen und Juden in Israel und in der Diaspora. Wir leben in sehr unterschiedlichen Gesellschaften und die allerwenigsten haben wirklichen Einblick in beide. Manche Israelїnnen, haben das Gefühl, dass jene von uns, die in der Diaspora leben, sich das nur auf Kosten derer erlauben könnten, die den Staat Israel erhalten und so für unsere Sicherheit sorgen. Ihr Leben als unser Notfallplan. Ein Notfallplan, der am 7. Oktober zunächst zusammengebrochen schien, sich aber seither für eine langsam wachsende Zahl von Jüdinnen und Juden in der Diaspora zu einem Plan A entwickelt.

Als jemand, dessen Lebensmittelpunkt in Europa liegt, habe ich umgekehrt all jenen, die nach der Angelobung der aktuellen israelischen Regierung überlegt haben, das Land zu verlassen, davon abgeraten. Eure Träume von Europa, habe ich ihnen gesagt, werden bitter enttäuscht werden. Die Reaktion auf die Gräueltaten der Hamas war eine Explosion des Antisemitismus in Europa und in der ganzen Welt mit Steigerungsraten von Übergriffen teils jenseits der 1000% – und das durchaus nicht von einem niedrigen Ausgangsniveau. Mich hat das nicht überrascht. Mich hat nicht überrascht, dass das Massaker der Hamas an Zivilistїnnen Anlass für Feste, Jubel und das Verteilen von Süßigkeiten war, mich hat nicht überrascht, dass es Friedhofsschändungen, Messerattacken, Morde und Aufrufe, das jüdische Volk auszulöschen, nach sich zog. Jene wohlmeinenden Europäerinnen und Europäer, denen es anders erging, haben den letzten Jahren nicht aufgepasst.

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Viele Jüdinnen und Juden warnen seit Jahren vor einem immer weiter erstarkenden Antisemitismus in Europa. Unsere Sorgen wurden nicht gehört. Sie wurden belächelt, sie wurden übertönt, sie wurden relativiert und nicht selten haben sich Nicht-Betroffene angemaßt uns den Antisemitismus zu erklären. Zwar war man kaum so unbeholfen, Jüdinnen und Juden aus politischen Entscheidungsprozessen zu Antisemitismus gänzlich auszuschließen, aber häufig hat man uns zu Rate gezogen, um dann anders zu entscheiden, oder uns zu Gremien eingeladen, die so besetzt waren, dass unsere Stimmen übergangen werden konnten.

Es braucht eine Wende

Heute genügen die Reden und Solidaritätsbekundungen der Politik nicht. Es braucht eine Wende hin zu konkreten Taten mit einem umfangreichen Maßnahmenpaket gegen Antisemitismus in Österreich. Es braucht verpflichtende umfassende Schulungen in kritischen Institutionen wie der Polizei. Es braucht eine Reform der Lehrmaterialien im Bildungsbereich und Schulungen des Lehrpersonals. Es braucht eine wirksame Strategie, die auf der Höhe der Zeit ist, um Antisemitismus in den sozialen Medien entgegenzutreten. Es braucht Investitionen in die Sicherheit jüdischer Bürgerїnnen und Einrichtungen. Nicht zuletzt braucht es das Angebot substantieller materieller Unterstützung für Israel und eine Ausweitung der Zusammenarbeit der beiden Staaten, denn die Sicherheit Israels ist nicht von der Sicherheit der Jüdїnnen zu trennen. Antisemitismus hat in Österreich bekanntlich eine lange und besondere Tradition. Umso mehr ist jener Teil der politischen Klasse, der sich von dieser Tradition zu distanzieren sucht, aufgefordert, Maßnahmen zu setzen, die dem Klima, in dem die antisemitische Gewalt in den vergangenen Wochen explodieren konnte, etwas entgegenzusetzen. Ein Klima, an dem sie auch eine Mitverantwortung trägt.

Benjamin Kaufmann ist Philosoph und ehemaliger Präsident der Internationalen Liga gegen Rassismus und Antisemitismus in Österreich (LICRA)

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