Politik in Österreich: Wenn sich die Kompassnadel verirrt

Politik in Österreich: Wenn sich die Kompassnadel verirrt
Eine literarische Stimme zur Lage im Land. Ein Gastkommentar von Andrea Drumbl.

Wer will in Österreich jetzt noch regieren? Wer kann überhaupt noch regieren? Was kommt nach dem Nirvana?

Die Grande Dame ÖVP hat sich mit der Entscheidung, mit der FPÖ in Verhandlung zu treten, das Genick über die Schmerzgrenze hinaus stark verknackst und in letzter Sekunde doch noch den Kopf aus der rechtslastigen Schlinge gezogen. Wenn sich die politische Mitte jetzt nicht stärkt, wird die gesellschaftliche Schere die Kluft zwischen den Menschen noch mehr polarisieren.

Politik in Österreich: Wenn sich die Kompassnadel verirrt

Andrea Drumbl

Denn in Tagen wie diesen scheint es, als würden die Menschen, die in Österreich leben, den Weg kennen, den sie ein Leben lang gegangen sind, doch plötzlich gibt ihnen jemand, den sie nicht kennen, einen himmelblauen Kompass für den Weg, den sie schon ein Leben lang gegangen sind. Sie fangen an, in die Richtung zu gehen, die ihnen der Kompass zeigt, obwohl es nicht die Richtung ist, in die sie ein Leben lang gegangen sind, aber sie gehen trotzdem, drehen sich nach rechts, drehen sich weiter nach rechts, drehen sich nach rechtsaußen und gehen so lange in die Richtung, die ihnen der Kompass zeigt, bis sie von einem Auto überfahren werden, weil der Kompass die Überquerung einer Autobahn anzeigt.

Rechtsaußen wird in Österreich immer salonfähiger. Rechtsaußen ist jedoch keine Zeiterscheinung, sondern brandgefährlich.

Wie kann es in Österreich jetzt noch weitergehen? Eine Rückbesinnung auf menschliche Werte wäre eine Möglichkeit und nicht nur eine Möglichkeit, sondern eine dringende Notwendigkeit.

Es ist nämlich nicht selbstverständlich, in einem Land zu leben, in dem Friede herrscht und in dem die Menschen einigermaßen in Wohlstand leben können.

Es ist auch nicht selbstverständlich, in einem Land zu leben, in dem die liberale Demokratie ein wesentliches Fundament für eine funktionierende Gesellschaft ist.

Es ist nicht selbstverständlich, in einem Land zu leben, das Menschen aus anderen Ländern auffängt, wenn diese auf der Flucht sind. Denn stell’ dir vor, in deinem Land ist Krieg und du musst flüchten. In ein Land, das du nicht kennst. Was du mitbringst, sind Bilder vom Krieg, Bilder vom Sterben, Bilder von Leichen, Bilder vom Tod. Zeugnisse einer Flucht. Was dich empfängt, sind Bilder einer ungewissen Zeit, sind Bilder voller Fragezeichen.

Flucht ist nie eine Entscheidung. Menschen, die flüchten müssen, haben meistens alles verloren: die vertrauten Straßen, Häuser, Bäume, Menschen. Ihre Muttersprache. Der Krieg wiegt schwer. Immer.

Nach dem Aus der blau-schwarzen Verhandlungen herrscht jetzt ein großes Aufatmen, ein regelrechtes Keuchen ist es, denn Österreich ist an seiner politischen Selbstzerstörung noch einmal knapp vorbeigeschrammt. Wenn Österreich jetzt die rechtslastige Kurve kratzen will, braucht es in der politischen Mitte unbedingt einen Neubeginn.

Andrea Drumbl ist Schriftstellerin (demnächst erscheint „Wir haben das Dasein geübt “)

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