Causa Lena Schilling: Wahrheit gegen Wahrheit
Wie so oft wird auch Lena Schilling als eine, die über unterschiedliche Gewalt geredet hat, Zielperson für die verbale Gewalt der gegenwärtigen Empörungsgesellschaft – ein klassisches „Parallelgeschehen“: Verhaltenskritik ist meist ein Bumerang. Schuldumkehren heißt das in der Fachsprache.
Da wird zwar politischerseits propagiert, „hinzuschauen“ und aktiv zu werden, um Gewalt nicht zu tolerieren – aber wenn es eine:n selbst betrifft, folgen Racheaktionen, Verleumdungsklagen, soziale Isolierung wenn nicht gar Vernichtung. (Ich habe so etwas selbst vielfach erlebt und einiges davon in meiner Autobiografie „Niemandsweib“ geschildert. Ich habe aber auch etliche Journalist:innen beraten, die sich in der Zwickmühle zwischen den Berichtswünschen ihrer Vorgesetzten und den Klagsdrohungen derjenigen befanden, welche Veröffentlichungen verhindern wollten – und letztlich meist erfolgreich waren.
Es wird Krieg geführt: Wahrheit gegen Wahrheit. Im Kleinen wie im Großen. Das ist nämlich das eigentliche Thema in derartigen Fällen: Der Umgang mit Verdacht und Wahrheit. Dass sogenannte Untaten – selbst wenn sie mitunter nicht strafrechtlich relevant sind – abgestritten werden, ist „normal“, weil üblich. Aber ist es eine Untat, wenn man über Übergriffe redet, die man vielleicht nur deswegen nicht beweisen kann, weil die geschädigte Person im Nachhinein abstreitet, was sie einst erzählt hat? Obwohl ersichtlich ist, dass die Täterperson (oder deren Familie, Freundeskreis) dahintersteckt? Alles aus deren Sicht einsichtig. Aber ist das gesellschaftlich wünschenswert?
Ich habe im Erststudium Rechtswissenschaft gehört: „Der Beschuldigte darf alles seiner Verteidigung Dienliche vorbringen – wahr muss es nicht sein.“ Wahr müssen nur die Zeugen sein – und sind es oft auch nicht, aber wenn man das nicht beweisen kann, ist es zwecklos, sich dagegen zu wehren. Ich habe oft genug erlebt, wie sich potenzielle Zeugen mit „Zieh mich da nicht mit hinein!“ weigerten, Wahrheit zu bekunden. Und ich höre gerade jetzt wieder den Glaubenssatz: „Wenn jemand nicht dagegen klagt, wird es schon wahr sein!“ Er ist unwahr. Ich gebe in meiner Autobiografie Beispiele, aus welchen Gründen ich da und dort nicht geklagt habe.
Auch das habe ich im Jus-Studium gelernt: das Wort „Lüge“ ist klagbar – es unterstellt unehrenhaftes Verhalten. Als Psychotherapeutin ergänze ich: Außerdem beruht es auf Fantasien oder Abwehr eigener Verhaltensweisen durch Projektion auf passende Sündenböcke. Auch gibt es Irrtümer, Missverständnisse, False Memory … (innere) Motivation, Ziel ist nur beweisbar, wenn es dazu (äußere) Belege gibt – und für deren Bewertung sind Gerichte zuständig. Für Konfliktlösung hingegen Mediation – oder Sozialtherapie.
Und ein Ethos des Verzichts auf „Sager“ – auch in der Politik.
Rotraud Perner ist Juristin, Psychoanalytikerin, ehem. Univ.-Prof. u. a. für Prävention u. Gesundheitskommunikation
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