Brünner Todesmarsch: Das Unrecht als solches benennen

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Vor achtzig Jahren ereignete sich der Brünner Todesmarsch. Ein Gastkommentar von Johannes Schönner.

Die Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerung aus Ost- und Ostmitteleuropa stellt selbst 80 Jahre nach Beginn massenhafter Abschiebungen aus Polen, der Tschechoslowakei, dem Baltikum und vom Balkan eine historische Ambivalenz dar. Doch weshalb sind die brutale Vertreibung, die Demütigungen, die Tausenden Ermordungen sowie die absolute Rechtlosigkeit und Enteignung von Millionen Menschen selbst im Jubiläumsjahr kein breiteres öffentliches Gedenken wert? Wenn Nachkommen der seinerzeit Vertriebenen öffentlich dieses Unrechts gedenken, geraten sie oft in Rechtfertigungsnotstand. Ein Rückblick im Besonderen auf die Vorgänge, die Ende Mai 1945 in der Tschechoslowakei als wilde Vertreibungen von „Altösterreichern“ begannen, ehe systematische und staatlich gelenkte Abschiebungen stattfanden, soll diesem Defizit Rechnung tragen.

Brünner Todesmarsch: Das Unrecht als solches benennen

Johannes Schönner.

Über Jahrhunderte hinweg lebten Tschechen und Deutschsprachige meist friedlich zusammen. Erst das Entstehen des Nationalismus auf beiden Seiten führte zu einer Radikalisierung. Nicht zuletzt der bedeutende Historiker František Palacký begründete ein tschechisches Nationalgefühl, mehrere Slawenkongresse vertieften die Gräben und auch die k.k. Monarchie – oftmals kurzsichtig – fand nicht die passenden politischen Antworten. Das Ende der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn 1918 trennte schließlich die sudetendeutschen Siedlungsgebiete von Österreich ab. In der Zwischenkriegszeit dominierte die tschechoslowakische Bevölkerung über die Minderheiten (Deutsche, Ungarn), die diese verbittert zurückließen. Tomáš Garrigue Masaryk, Präsident der neuen Republik, sprach schon 1919 von „Entgermanisierung“. Die Machtergreifung Hitlers 1933 führte zu einer weiteren Radikalisierung der Volkstumspolitik in Europa. Mit dem Münchner Abkommen 1938, der Okkupation Tschechiens 1939 durch Nazi-Deutschland verschärfte sich die Situation. Der Name Heydrich und die Stadt Lidice stehen für Rassenwahn, brutale Verfolgung und zynischen Terror gegenüber Tschechen. Während des Zweiten Weltkriegs stellten die tschechoslowakische Exilregierung in London und die Alliierten bereits die Weichen für die Aussiedlung der Deutschen und Ungarn.

Mitte Mai 1945 wurde Edvard Beneš nach seiner Rückkehr aus dem Exil in Prag endgültig deutlich: „Es wird notwendig sein, insbesondere kompromisslos die Deutschen in den tschechischen Ländern und die Ungarn in der Slowakei völlig zu liquidieren, soweit diese Liquidierung im Interesse des einheitlichen Nationalstaates der Tschechen und Slowaken überhaupt nur möglich ist. Unsere Losung muss es sein, unser Land kulturell, wirtschaftlich und politisch endgültig zu entgermanisieren.“ Am 31. Mai 1945 begann die Vertreibung der Deutschen aus Brünn, die in der k. k. Monarchie eine der größten deutschsprachigen Städte war. Ungefähr 30.000 Frauen, Kinder und alte Menschen wurden ab Ende Mai 1945 über die österreichische Grenze im Süden getrieben. Selbst konservative Schätzungen gehen von mindestens 4.000 Menschen aus, die durch Folter, Vergewaltigungen und Mord alleine durch die Vertreibung aus Brünn ums Leben kamen. Offiziell berief sich die tschechoslowakische Regierung, später die tschechische, bis heute stets auf die Potsdamer Erklärung von August 1945. Darin regelten die Alliierten (ohne Frankreich) die „ordnungsgemäße Überführung deutscher Bevölkerungsteile (…) in ordnungsgemäßer und humaner Weise“. Die Alliierten bestimmten darin offiziell die Ausweisung Deutscher aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn. Im offiziellen Narrativ Prags waren alle Deutschsprachigen eine „5. Kolonne“ Hitlers, deren Schicksal ausschließlich im Lichte des Nationalsozialismus und der Kriegsereignisse zu beurteilen war.

Im Zuge der EU-Erweiterung wurde dieses historische Thema stets ausgeklammert. Erfreulich ist allerdings, dass vermehrt junge Tschechen heute beginnen, Fragen dazu zu stellen. Was bleibt also? Eine ethnische Säuberung, die im Widerspruch zu allen Menschenrechten steht, und damit unwiderrufliche Fakten geschaffen werden sollten. Die Unterscheidung zwischen kollektiver und individueller Schuld führt hinüber zu aktuellen zeitgenössischen Fragen. Es geht vorrangig nicht um Wiedergutmachung: es geht darum, ein Unrecht als ein solches zu benennen.

Zum Autor:

Johannes Schönner ist Geschäftsführer des ÖVP-nahen Karl-von-Vogelsang-Instituts.

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